Gender und Mathematik

Gender und Mathematik

Modellansatz 142
58 Minuten
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Beschreibung

vor 6 Jahren

Gudrun Thäter hat sich an der FU Berlin zu einem Gespräch über
Geschlecht und Mathematik mit Anina Mischau & Mechthild
Koreuber verabredet. Anina Mischau leitet dort im Fachbereich
Mathematik und Informatik die Arbeitsgruppe Gender Studies in der
Mathematik. Dies ist in Deutschland die einzige derartige Stelle,
die innerhalb der Mathematik angesiedelt ist. Sie hat dort
vielfältige Aufgaben in Forschung und Lehre mit einem gewissen
Schwerpunkt in der Ausbildung für das Lehramt. Dort hilft sie,
einen Grundstein dafür zu legen, dass zukünftige Mathelehrkräfte
für die Bedeutung der sozialen Kategorie Geschlecht bei der
Vermittlung und beim Lernen von Mathematik sensibilisiert werden
und lernen, einen gendersensiblen Mathematikunterricht zu
gestalten. Auf Vorschlag von Anina Mischau hatten wir auch die
zentrale Frauenbeauftragte der FU - Mechthild Koreuber - herzlich
zu unserem Gespräch eingeladen. Auch sie ist studierte
Mathematikerin und hat über Mathematikgeschichte promoviert.


Uns alle bewegen solche Fragen wie:


Warum entsprechen die Anteile von Frauen in höheren Ebenen
der Mathematikfachbereiche nicht ihren Anteilen in den
Eingangsstadien wie Studium oder Promotion?

Liegt es auschließlich an den Eigenheiten der akademischen
Laufbahn oder gibt es hierfür zudem spezifisch fachkulturelle
Gründe?

Was bedeutet es für die Mathematik, wenn sie ausschließlich
von Männern entwickelt wird?



In der wissenschaftlichen Arbeit hierzu verfolgen die zwei
Gesprächspartnerinnen von Gudrun vier unterschiedliche
Forschungsrichtungen:
Wie stellt sich die Geschichte von Frauen in der Mathematik
dar? Welche didaktischen Ansätze sind geeignet, um mehr Menschen zu
Mathematik einzuladen? Was sind Exklusionsmechanismen für Frauen
(und nicht in die vorherrschende Mathematiker-Norm passende andere
Personen) in der Mathematik? Wie könnte eine Mathematik aussehen,
die das Potential von unterschiedlicheren Menschen einbezieht?


In der Geschichte der Mathematik geht es nicht nur darum, das
Vergessen in und die Verdrängung von Frauen aus der eigenen
Disziplingeschichte sichtbar zu machen, sondern vor allem auch um
das Aufzeigen, wo und wie das Werk und Wirken von
Mathematikerinnen mathematische Diskurse und damit
innermathematische Entwicklungen der Disziplin beeinflusst haben.
Ein Thema, an dem Mechthild Koreuber zum Beispiel intensiv
forscht, ist die Schule um Emmy Noether. Wie konnte es einen so
großen Kreis von Schülerinnen und Schülern geben, die bei ihr
lernen wollten, trotz eigener prekären Stellensituation und damit
verbunden auch (formal) wenig Reputationsgewinn für ihre Schüler
und Schülerinnen. Es kann eigentlich nur die Faszination der
mathematischen Ideen gewesen sein!


Das Bild der Mathematik als von Männern entwickelte und
betriebene - also männliche - Disziplin ist verquickt mit der
Vorstellung, was von uns als Mathematik eingeordnet wird, aber
auch wem wir mathematische Fähigkeiten zuschreiben. Automatisch
werden innerhalb dieses Ideen- und Personennetzes Frauen bei
gleichem Potential gegenüber ins Bild passenden Männern
benachteiligt und ihr Potential kommt nicht so gut zur
Entfaltung. Daneben feiern längst überwunden geglaubten
Stereotype fröhliche Urständ, wie am 1.2. 2017 im ZEIT-Artikel
Lasst Mädchen doch mit Mathe in Ruhe.


Nicht ganz unschuldig am Abschied der Frauen von der Mathematik
sind sicher auch unsere häufig steinzeitlichen
Unterrichts-Konzepte auf der Hochschulebene, denn Mathematik ist
nicht - wie angenommen - überkulturell. Wenn wir Mathematik
betreiben, neue Ergebnisse gewinnen oder Mathematik vermitteln
sind wir eingebunden in soziale und kulturelle
Produktionszusammenhänge wie Kommunikationsprozesse, die u.a.
auch durch die soziale Kategorie Geschlecht mit geprägt werden.
Außerdem ist wie Mathematik publiziert und unterrichtet wird
nicht wie Mathematik entsteht. Die Freude und Neugier an
Mathematik wird in der Ausbildung nicht in den Vordergrund
gestellt. Statt dessen ist Mathematik gerade für zukünftige
Lehrkräfte oft mit negativen Gefühlen und einem eher
eindimensionalen (und vielleicht auch stereotypen) Verständnis
von Mathematik besetzt, was später in der eigenen schulischen
Praxis unbeabsichtigt an Kindern und Jugendliche als Bild von
Mathematik weitergegeben wird. Um diesen Teufelskreis
aufzubrechen braucht es mehr Freiräume und auch neue Konzepte und
Ansätze in der Hochschullehre.


Wir Mathematiker und Mathematikerinnen sind für das Bild der
Mathematik in der Gesellschaft verantwortlich. Ganz besonders in
der Ausbildung für das Lehramt können wir hier starken Einfluss
nehmen. Dafür müssen wir besser verstehen: Wo und wie werden
Ideen ausgeschlossen, die dem engen vorherrschenden Bild von
Mathematik nicht entsprechen? Wieso ist es ok, öffentlich auf
Distanz zu Mathematik zu gehen (und damit zu kokettieren: In
Mathe war ich immer schlecht) oder "Mathematiker als Nerd" oder
halb verrückte Menschen darzustellen? Dieses Bild gehört neu
gezeichnet durch allgemeinverständliches Reden über Mathematik
und ihre Rolle für uns alle. Darüber hinaus ist und bleibt
Mathematik eine soziale Konstruktion - das ist nicht immer leicht
zu akzeptieren. Im Kontext der Geschlechterforschung werden
Geschlechterasymmetrien und Geschlechterunterschiede im Fach
Mathematik als Produkt einer Wechselwirkung zwischen der sozialen
Konstruktion von Geschlecht und der sozialen Konstruktion von
Mathematik gesehen werden, die in der Vermittlung der Mathematik
(im schulischen Unterricht wie in der Hochschullehre)
reproduziert wird. Die soziale Konstruktion von Mathematik und
ihre Wechselwirkung mt anderen sozokulturellen Konstruktionen
kann aber auch jenseits der Diskurse in der Geschlechterforschung
verdeutlicht werden - z.B. an der Zeit des Nationalsozialismus.
Offensichtlich entschieden damals äußere Faktoren darüber, wer
Mathematik machen und vermitteln darf und es wird der oft
verdeckte (oder verleugnete) kulturelle und gesellschaftliche
Einfluss auf die Disziplin sichtbar. Es wäre wünschenswert, wenn
man auch für solche Themen Qualifikationsarbeiten in der
Mathematik als fachintern ansehen lernen würde.


Gemeinsam beschreitet man an der FU neue Wege: In Anträgen für
Forschungsmitteln werden auch Projekte für wissenschaftliche
Untersuchungen in den Forschungsclustern mitgeplant, die
verstehen wollen wie und warum Frauen in der Disziplin bleiben
oder gehen, was die Wissenschaftler (und Wissenschaftlerinnen)
für ihren Nachwuchs tun und wie sich das auf Diversität auswirkt.


Leider wird Mathematikphilosophie und - geschichte derzeit nicht
als Teil der Disziplin Mathematik wahrgenommen. Es fehlt der
Respekt - das Gefühl des Sprechens auf gleicher Augenhöhe. Ein
Wunsch wäre: In naher Zukunft einen Workshop im Mathematischen
Forschungsinstitut Oberwolfach zum Thema Mathematik neu Denken zu
organisieren. Das wäre eine Art Lackmustest, ob Bereitschaft zum
Wandel in der Mathematik besteht. Im Januar gab es immerhin schon
einen Mini-Workshop zum Thema Frauen in der Mathematikgeschichte.

Literatur und weiterführende Informationen

A. Blunck, A. Mischau, S. Mehlmann: Gender Competence in
Mathematics Teacher Education, in Gender in Science and
Technology. Interdisciplinary Approaches. Hrsg. Waltraud Ernst,
Ilona Horwarth, 235–257 Bielefeld, 2014.

L. Burton: Moving Towards a Feminist Epistemology of
Mathematics, Educational Studies in Mathematics 28(3): 275–291,
1995.

B. Curdes: Genderbewusste Mathematikdidaktik, In Gender
lehren – Gender lernen in der Hochschule: Konzepte und
Praxisberichte. Hrsg. Curdes, Beate, Sabine Marx, Ulrike
Schleier, Heike Wiesner, S. 99-125. Oldenburg: BIS-Verlag, 2007.

M. Koreuber, Hrsg: Geschlechterforschung in Mathematik und
Informatik, Eine (inter)disziplinäre Herausforderung.
Baden-Baden: Nomos, 2010.

M. Koreuber: Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne
Algebra. Zur Geschichte einer kulturellen Bewegung, Heidelberg:
Springer, 2015.

B. Langfeldt, A. Mischau, F. Reith, K. Griffiths: Leistung
ist Silber, Anerkennung ist Gold. Geschlechterunterschiede im
beruflichen Erfolg von MathematikerInnen und PhysikerInnen. In
Bettina Langfeldt, Anina Mischau, 76–111. Strukturen, Kulturen
und Spielregeln. Faktoren erfolgreicher Berufsverläufe von Frauen
und Männern in MINT. Baden-Baden: Nomos, 2014.

B. Langfeldt, A. Mischau: Die akademische Laufbahn in der
Mathematik und Physik. Eine Analyse fach- und
geschlechterbezogener Unterschiede bei der Umsetzung von
Karrierewissen. Beiträge zur Hochschulforschung 37(3): 80–99,
2015.

M. McCormack: Mathematics and Gender. Debates in Mathematics
Education. Hrsg. Dawn Leslie, Heather Mendick, 49–57. London:
Routledge, 2013.

H. Mendick: Masculinities in Mathematics. Open University
Press. McGraw-Hill Education (UK), 2006.

H. Mihaljević-Brandt, L. Santamaria, M. Tullney: The Effect
of Gender in the Publication Patterns in Mathematics, PloS one
11.10: e0165367, 2016.

A. Mischau, K. Bohnet: Mathematik „anders“ lehren und lernen.
In Gender – Schule – Diversität. Genderkompetenz in der Lehre in
Schule und Hochschule. Hrsg. Ingrid Rieken, Lothar Beck, 99–125.
Marburg: Tectum, 2014.

A. Mischau, S. Martinović: Mathematics Deconstructed?!
Möglichkeiten und Grenzen einer dekonstruktivistischen
Perspektive im Schulfach Mathematik am Beispiel von Schulbüchern.
In Queering MINT. Impulse für eine dekonstruktive
Lehrer_innenbildung. Hrsg. Nadine Balze, Florian Chistobal Klenk
und Olga Zitzelsberger, 85–104. Opladen: Budrich, 2017.

C. Morrow, T. Perl: Notable Women in Mathematics: A
Biographical Dictionary. Westport, Connecticut: Greenwood
Publishing Group, 1998.

B. Shulman: What if we change our Axioms? A Feminist Inquiry
into the Foundations of Mathematics. Configurations 4(3):
427–451, 1996.

R. Tobies, Hrsg: Aller Männerkultur zum Trotz. Frauen in
Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Erneuerte und
erweiterte Auflage der Erstveröffentlichung 1997. Frankfurt a. M:
Campus, 2008.

Ethnomathematik

A. Radunskaya: President´s report Newsletter of the
Association of Women in mathematics, Juli/Aug. 2017.

T. Gowers: Blogpost in Gower's Weblog March 10th, 2009.

Gendergap in science

Bericht des Oberwolfach Mini-Workshops Women in Mathematics:
Historical and Modern Perspectives 8.-14.1. 2017.


Podcasts

C. Rojas-Molian: Rage of the Blackboard, Gespräch mit G.
Thäter im Modellansatz Podcast, Folge 121, Fakultät für
Mathematik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2017.

G.M. Ziegler: Was ist Mathematik? Gespräch mit G. Thäter im
Modellansatz Podcast, Folge 111, Fakultät für Mathematik,
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2016.

C. Spannagel: Flipped Classroom, Gespräch mit S. Ritterbusch
im Modellansatz Podcast, Folge 51, Fakultät für Mathematik,
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2015.

N. Dhawan: Postkolonialismus und Geschlechterforschung,
Gespräch mit M. Bartos im Zeit für Wissenschaft Podcast, Folge
13, Universität Innsbruck, 2015.

M. Jungbauer-Gans: Frauen in der Wissenschaft – Gleiche
Chancen, Ungleiche Voraussetzungen? Zentrum für Gender Studies
und feministische Zukunftsforschung, Podcast Kombinat,
Universität Marburg, 2016.



In Memoriam: Maryam Mirzakhani, 1977-2017, Mathematician, Fields
Medalist: Scientist, collaborator, colleague, mentee, expert,
mentor, teacher, working mom, wife, daughter, friend, professor,
immigrant, math doodler, woman in science
Constanza Rojas-Molina
https://ragebb.wordpress.com/2017/07/16/506/

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