Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation

Palliative Behandlung und Sterben auf einer Neugeborenen-Intensivstation

Beschreibung

vor 15 Jahren
Der Verlust eines Neugeborenen stellt für die betroffenen Eltern
ein tief greifendes Ereignis dar. Vor allem im europäischen bzw.
deutschsprachigen Raum wird die Problematik klinisch,
wissenschaftlich und gesellschaftlich erst in Ansätzen wahrgenommen
und untersucht, eine Übertragung der Ergebnisse von im
anglo-amerikanischen Sprachraum durchgeführten Untersuchungen ist
aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen nur eingeschränkt
möglich. Im Rahmen eines infausten Krankheitsverlaufs kann eine
Therapiezieländerung zu palliativer Therapie eine Rolle spielen.
Dieser Aspekt wurde insbesondere aus Sicht der Eltern noch zu wenig
wissenschaftlich beleuchtet und deren Auswirkung auf die
Trauerreaktion der Eltern erst in wenigen älteren Studien
untersucht. Die Betreuung der Familien sowohl in der Zeit der
Erwägung und Besprechung einer palliativen Behandlung, zum
Zeitpunkt des Versterbens des Kindes als auch in der Trauerphase
stellt behandelnde Ärzte und das Pflegepersonal vor große
Anforderungen. Eine Analyse der lokalen Bedingungen für Familien,
die von einem neonatalen Verlust betroffen sind, erscheint von
großem Interesse, um die zukünftige Betreuung den Bedürfnissen
anpassen und verbessern zu können. Die dieser Dissertationsschrift
zugrunde liegende Studie zeigt auf, wie Eltern den Tod ihres
Neugeborenen erleben und welche Faktoren dieses Erleben und die
Trauerreaktion beeinflussen. Im Rahmen einer deskriptiven
Kohortenstudie wurden die Eltern aller Neugebo-renen, die im
5-Jahres-Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1999 und dem 31. Dezember
2003 auf der neonatologischen Intensivstation verstarben, um
schriftliche sowie persönliche Studienteilnahme gebeten. Der
21-seitige Fragebogen enthielt 242 Fragen einschließlich der
Perinatal Grief Scale (PGS, validiertes Messinstrument). Die
halbstrukturierten Interviews wurden aufgezeichnet und
transkribiert. Die quantitativ erhobenen Daten wurden mittels
explorativer statistischer Vergleiche analysiert, wobei
ausschließlich nonparametrische Verfahren zur Anwendung kamen. 50
Eltern zu 31 von insgesamt 48 verstorbenen Kindern beteiligten
sich, davon 41 per Fragebogen und Interview, 9 nur schriftlich. Die
mediane Interviewdauer betrug 2,6 Stunden. Die Trauerintensität
(PGS-Score) sowie die Dauer der Trauerphase bei Eltern mit
Entscheidung zum Abbruch intensivmedizinischer Maßnahmen wichen
nicht signifikant von denjenigen anderer Eltern ab. Unterschiede
bzw. Korrelationen (p < 0,05) der PGS (medianer PGS-Score)
bestanden bezüglich Geschlecht (Mütter: 63; Väter: 59), dem
Vorhandensein vorher geborener Kinder (mit bzw. ohne vorher
geborene Kinder 65 bzw. 51), dem Vorhandensein nachher geborener
Kinder (mit bzw. ohne nachher geborene Kinder 59 bzw. 66) sowie dem
Zeitraum zwischen Tod des Kindes und Interview. Mütter äußerten
häufiger, dass die Trauer Auswirkungen auf das soziale Umfeld
gehabt habe (p < 0,03). 95% der Eltern mit Entscheidung zur
Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen meinten, dass sie
angemessen in die Entscheidung miteinbezogen wurden und 92% gaben
an, diese Miteinbeziehung nicht zu bedauern. 85% hatten
diesbezüglich keine Schuldgefühle. 45% der Eltern fühlten sich
jedoch in dieser Situation überfordert. 17% der Mütter und 6% der
Väter fühlten sich generell schuldig für den Tod ihres Kindes. 60%
der Eltern waren anwesend, als ihr Kind verstarb. Das Zugegensein
wurde von allen als positiv empfunden. 75% der nicht anwesenden
Eltern hätten sich dies im Nachhinein anders gewünscht. Eltern, die
keinen Körperkontakt zu ihrem Kind gewünscht hatten (42%), hätten
sich diesen in 79% im Nachhinein gewünscht. Die Mehrzahl der Eltern
(79%) empfand das Vorhandensein von Erinnerungsgegenständen an das
verstorbene Kind als hilfreich in der Trauerphase. Der Wunsch nach
einem Gesprächspartner war in den ersten sechs Monaten nach dem Tod
des Kindes geringer als im darauf folgenden Zeitraum (Väter 42%;
56% sowie Mütter 68%; 73%). 83% der Mütter und 71% der Väter
meinten, dass sich die Beziehung zu ihrem Partner seit dem Tod des
Kindes verändert habe, wobei 83% angaben, dass sie das Ereignis
einander näher gebracht habe. Die vorliegende Studie zeigt, dass
die Befragung trauernder Eltern möglich ist. Die Bereitschaft
betroffener Familien, an einer Untersuchung ihrer Situation
teilzunehmen, war überraschend groß. Die stattgefundenen Gespräche
wurden von den Eltern trotz der immanenten Belastung ausschließlich
positiv beurteilt. Nach den vorgelegten Daten scheint eine
Einbeziehung der Familie in den Prozess der Entscheidungsfindung
zur Umorientierung des Therapieziels von Heilung auf Palliation bei
schwerstkranken Früh- und Reifgeborenen keine ungünstigen
Auswirkungen auf den Trauerverlauf, auf Schweregrad und Dauer
elterlicher Schuldgefühle im Zusammenhang mit dem Verlust des
Kindes oder auf die Häufigkeit pathologischer Trauerreaktionen zu
haben. Die individuellen Bedürfnisse der Eltern hinsichtlich der
verschiedenen Möglichkeiten des Kontakts zu ihrem sterbenden
Neugeborenen sind nicht einheitlich. Auf das Anfertigen,
Aushändigen bzw. Bewahren von Erinnerungsgegenständen sollte
geachtet werden. Der perinatale Tod eines Zwillingskindes kann eine
ebenso schwerwiegende Belastung der Familie auslösen wie der Tod
eines Einlingskindes. Der Verlust der inneren Stabilität der
Familie bei Tod eines Neugeborenen beeinträchtigt Geschwisterkinder
in unterschiedlichem Ausmaß und verursacht auch bei ihnen spezielle
Betreuungsbedürfnisse. Wenige Wochen nach einem perinatalen
Todesfall sollten den Eltern seitens des medizinischen
Betreuungspersonals ein oder mehrere Nachgespräche angeboten
werden. Dabei sollte auf zu erwartende Unterschiede zwischen der
mütterlichen und väterlichen Trauerreaktion hingewiesen werden. Auf
das Risiko pathologischer oder chronischer Trauerreaktionen sollte
ebenfalls verwiesen werden, da sie einer professionellen Betreuung
bedürfen. Abschließend kann festgehalten werden, dass keine
Handlungsrichtlinien kreiert werden können, die die Bedürfnisse
aller betroffenen Eltern erfassen. Die Betreuung der Eltern muss
vielmehr anstreben, diese auf ihrem individuellen Weg emotional zu
begleiten, Verständnis für die gezeigten Reaktionen aufzubringen
und individuell geeignete Hilfsangebote zur Verfügung zu stellen.

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