050 — Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr

050 — Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr

Dies ist mittlerweile die 50. Episode von Zukunft Denken. Bei einem Podcast mit diesem Namen muss die Frage erlaubt sein, was wir als Gesellschaft überhaupt unter Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstehen. Es bietet sich also diese Episode auch ...
1 Stunde 9 Minuten
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Woher kommen wir, wo stehen wir und wie finden wir unsere Zukunft wieder?

Beschreibung

vor 2 Jahren

Dies ist mittlerweile die 50. Episode von Zukunft Denken. Bei
einem Podcast mit diesem Namen muss die Frage erlaubt sein, was
wir als Gesellschaft überhaupt unter Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft verstehen. Es bietet sich also diese Episode auch als
Zwischenschritt der Selbst-Reflexion an. 


Daher freue ich mich, dass ich Prof. Achim Landwehr für ein
Gespräch gewinnen konnte. Achim Landwehr ist deutscher Historiker
und Germanist, er war unter anderem an der
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am Max Planck Institut für
Europäische Rechtsgeschichte, und an der Uni Augsburg tätig. Er
ist heute Dekan der philosophischen Fakultät der Heinrich Heine
Universität Düsseldorf.


In dieser Episode setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie
sich das Verständnis der Zeit und der Gegenwart (in Europa) in
der Neuzeit verändert hat. 


Zuvor war es die Vergangenheit, die positiv besetzt war, oftmals
eine Idealisierung der Antike. Die Zukunft galt eher negativ oder
vorherbestimmt. Es herrschte ein Zeitverständnis vor, das auf
Statik hinausläuft und Stabilität der Verhältnisse idealisiert,
beziehungsweise eine Rückkehr zu den Ideen der Antike. Das Neue
heißt Veränderung und ist eher nicht erwünscht, weil es eine
Veränderung zum schlechteren ist.


»Die Aussichten auf das Leben waren für die Zeitgenossen des 16.
und 17. Jahrhunderts nicht unbedingt erfreulich. Die Dinge, die
da kommen würden, waren schon längst vorherbestimmt, man musste
eigentlich nur noch auf ihr Eintreffen warten. Die Wegweiser
zeigten eindeutig in Richtung Untergang, […]«


Mit der Neuzeit beginnt sich manches zu ändern. 


»Seit der Antike gilt: es ist egal wann sie geboren sind oder
sterben, es läuft immer dasselbe Stück – Dies stimmt seit 200
Jahren nun nicht mehr.«, Peter Sloterdijk


Aber was ist es, das sich ändert? Wo setzen wir Epochen? Denn
Rückschau verzerrt die Dinge auch immer: je weiter weg, desto
stabiler erscheinen sie uns und wir bekommen ein
Perspektivenproblem. Und so deckt sich die Wahrnehmung der Zeit
nicht immer mit der Wahrnehmung der Rückschau:


»1450-1500 wurden europaweit genauso viele Bücher produziert wie
in den eintausend Jahren zuvor — es war eine mediale Explosion!!«


So ist auch die Rolle des 30 jährigen Krieges heute den
meisten kaum gegenwärtig: die Zerstörung und Verunsicherung war
enorm — es war wohl die größte menschengemachte Katastrophe bis
zum 20. Jahrhundert 


Und dennoch verschieben sich die Dinge: Das Zeitalter der
Universalgelehrten geht langsam aber sicher zu Ende — sofern der
Begriff des Universalgenies überhaupt von der Menge der
Information abghängig ist? Aber auch das christliche
apokalyptische Denken wird brüchig.


Gegenwart ist zunächst ein räumlicher Begriff, der dann
abstrahiert auf das Verständnis der Zeit wird. Zeitbegriffe
können also auch als Abstraktion verstanden werden.


Abstraktion, die wir in Wirkungen auf zahlreiche Bereiche
beobachten können: von den Anfängen der Naturwissenschaft, über
die Sprache und Politik bis zum Versicherungswesen verändert sich
der Umgang mit der Welt und der Zeit. Die Rolle der
Naturwissenschaften liegt dabei nicht nur im Veständnis der Welt
sondern besonders auch im Verständnis der Veränderbarkeit und
Gestaltbarkeit der Welt und führt langsam zur Ausformung der
modernen wissenschaftlichen Disziplinen.


Auch die zunehmende Technik spielt natürlich eine Rolle, die etwa
Uhrengebrauch hervorbringt und Prozesse erfordert, die diese
technischen Systeme der industriellen Revolution am Laufen
halten.


Nicht immer kommen die heute bekannten Umbrüche aber von
sogenannten Progressiven, manchmal werden aus Traditionalisten
(ungewollt) Revolutionäre, wir wir am Beispiel von Galileo,
Kepler und Descartes diskutieren — sozusagen eine
»Neuzeitlichkeit wider Willen«.


»Pflanzen binden Energie. Tiere binden Raum, sie können sich
bewegen, jagen, Energie und Ressourcen eines wesentlich größeren
Raumes einfangen. Menschen allerdings, sind in der Lage Zeit zu
binden: wir können die Erfahrungen einer Generation erfassen und
an die nächste weitergeben.«, Douglas Ruskoff


Wie gehen wir dann mit diesen neuen Möglichkeiten und auch
gesellschaftlichen Ideen der Gegenwart und Zukunft um — im
Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert? Um die Idee der Zeitbindung
weiter zu spinnen: folgen aus den neuen Technischen
Möglichkeitung und dem Binden der Zeit neue Verantwortungen?


Prof. Landwehr betont, dass selten eine einzelne Wahrnehmung von
Zeit und Geschwindigkeit gilt, sondern dass eher eine
Pluritemporalität vorherrscht. Auch in der heutigen Zeit. Dazu
passt auch das Zitat von Herfried Münkler:


»Demokratie ist eine träge Maschinerie, konzipiert um
Entscheidungen zu verlangsamen.«


Zuletzt bewegen wir uns in die heutige Zeit. Was bedeutet die
zunehmende Ökonomisierung der Zeit, Zeit als Ressource und Zeit
als Lebensqualität? Wie gehen wir wir mir diesen
Pluritemporalitäten heute um? — von Nostalgie (die zu gewissen
Zeiten auch als Krankheit galt) bis zu den zum Teil abstrusen
Widersprüchen von Retropien bis zur techno-Phantasie der
Singularität. 


»Wir leben in einer besonderen historische Phase, in der die
Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens
erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das
Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann
hat dagegen keine.«, Byung-Chul Han


Am Ende gibt es noch eine — von historischer Perspektive
getragene — optimistischen Blick in die Zukunft und den Umgang
mit apokalyptischen Vorstellungen, die die Menschheit ebenfalls
seit langer Zeit begleiten.


»Wenn Apokalypse nie ausstirbt, dann heißt das aber auch: Die
Welt geht nie unter. Das ist dann vielleicht die positive
Konsequenz, die man daraus ableiten könnte.«


Referenzen


Prof. Achim Landwehr


Achim Landwehr an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf



andere Episoden


Episode 9: Abstraktion: Platos Idee, Kommunismus und die
Zukunft

Episode 12: Wie wir die Zukunft entdeckt und wieder verloren
haben

Episode 44, Was ist Fortschritt, im Gespräch mit Philip Blom

Episode 37 – Probleme und Lösungen (Über Generalisten)



fachliche Referenzen


Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart: Eine Geschichte der
Zeit im 17. Jahrhundert, Fischer (2014)

Achim Landwehr, Diesseits der Geschichte, Wallstein (2020)

Douglas Rushkoff, Present Shock, Current (2013)

Peter Sloterdijk: Sternstunden Philosophie

Philipp Blom: Was auf dem Spiel steht, Hanser (2017); (Zitat
Herfried Münkler)

Alexander Luria

Byung-Chul Han, Psychopolitik, S. Fischer (2014)

Zygmunt Baumann, Retrotopia, Edition Suhrkamp (2017)

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