Was bedeutet der russische Angriff auf die Ukraine für die Welt? (Markus Reisner)

Was bedeutet der russische Angriff auf die Ukraine für die Welt? (Markus Reisner)

44 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Seit über drei Monaten kämpft die Ukraine gegen den Angriff der
russischen Armee. Nach überraschenden Erfolgen zu Beginn der
Invasion gerieten die ukrainischen Verteidiger zuletzt in
Schwierigkeiten. Russland habe aus den eigenen Fehlern gelernt
und die Strategie geändert, sagt Oberst Markus Reisner im
Podcast. „Im Donbass gehen sie jetzt langsamer vor, greifen breit
an und setzen stark auf die Artillerie. Das macht die
ukrainischen Soldaten zunehmend mürbe. Seit ein paar Tagen gibt
es Videos, in denen Soldaten an Präsident Selenski appellieren,
dass sie sich nicht mehr in der Lage sehen, diese Stellungen zu
halten.“


Eine Prognose über Sieg oder Niederlage traut sich der Experte
nicht zu. „Als Historiker muss ich aber sagen, dass meistens jene
Kriege besonders verheerend waren, in denen beide Seiten
überzeugt waren, das richtige zu tun.“ Auf den Ukraine-Konflikt
treffe das leider zu. „Wir müssen uns bewusst machen, dass
Russland hier nicht nachgeben kann. Putin hat 20 Jahre lang das
Narrativ aufgebaut, Russland sei wieder zurück und habe eine
starke, moderne Armee. Das stünde bei einer Niederlage alles auf
der Kippe.“ 


Bisher zu wenig beachtet wurde aus Reisners Sicht ein großes
Problem abseits der militärischen Manöver. Es geht um die Folgen
dieses Krieges für die Lebensmittelversorgung in anderen Teilen
der Welt: Die Ukraine ist für 15 bis 20 Prozent der globalen
Getreideproduktion verantwortlich. 25 Millionen Tonnen Weizen aus
der Vorjahresernte sind noch im Land und müssten jetzt mit
Frachtschiffen exportiert werden. Das geht aber nicht, weil die
Hafenstädte am Schwarzen Meer entweder von den Russen zerstört
wurden oder derzeit blockiert werden. Ein Transport mit der
Eisenbahn scheitert an technischen Schwierigkeiten – etwa dem
ukrainischen Breitspur-System – und wäre ohenhin nur für einen
sehr kleinen Teil der Menge möglich. „Das heißt, 25 Millionen
Tonnen Weizen können das Land nicht verlassen. Staaten wie
Somalia, Jemen und Ägypten sind aber davon abhängig“, sagt
Reisner. Für diese Situation gebe es derzeit keine Lösung.
Wladimir Putin habe nun zwar angeboten, einige Häfen freizugeben.
Was das genau bedeute, sei aber noch unklar, meint der Experte.
„Wer darf dort anlegen? Sind es vielleicht nur Länder, die
pro-russisch agieren?“ In Summe müsse man leider sagen, dass die
Sanktionen des Westens bisher nicht den gewünschten Effekt
erzielten.  


Reisner plädiert für einen ehrlicheren Umgang mit
Sicherheitspolitik. 


 „Sind wir bereit, für die Demokratie und unser liberales
Wertesystem einzutreten oder nicht? Wenn nicht, hat sich Europa
selbst aufgegeben.“ Reisner will das nicht nur als Forderung nach
mehr Waffen verstanden wissen. Ihm fehle derzeit auch das
Bemühen, abseits des Schlachtfelds etwas zu bewirken. „Wo ist die
Diplomatie? Wo sind die Verhandlungen? Wir müssen langsam
beginnen, die Diplomatie wieder zu beleben.“  


Die aktuelle Debatte über Österreichs Neutralität hält Reisner
für einen Fortschritt. „Es ist gut, dass wie wieder darüber
nachdenken, wie diese Neutralität gestaltet sein soll. Wenn wir
sie beibehalten, müssen wir sie besser ausstatten.“ Das betreffe
nicht nur das Bundesheer. „Die umfassende Landesverteidigung war
ein Konzept, das unsere Väter und Großväter noch kannten. Es ging
darum, den Staat als ganzes resilient zu machen – damals
gegenüber der Sowjetunion. Die Gasversorgung zum Beispiel ist
kein militärisches Problem, sondern eines der wirtschaftlichen
Landesverteidigung. Man muss das viel breiter denken.“ 


Markus Reisner, Jahrgang 1978, studierte Geschichte und
Rechtswissenschaften in Wien und leitet die Forschungs- und
Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in
Wiener Neustadt. Er ist Oberst des Generalstabs und war für das
Bundesheer bei zahlreichen Auslandseinsätzen unter anderem im
Kosovo, in Afghanistan und im Tschad. 

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