Anne Tyler: Der Sinn des Ganzen

Anne Tyler: Der Sinn des Ganzen

6 Minuten
Podcast
Podcaster

Beschreibung

vor 1 Jahr

Was der Sinn des Ganzen ist, ein Buch, welches in der
Originalausgabe den Titel Readhead by the Side of the Road trägt,
in deutscher Übersetzung Der Sinn des Ganzen zu nennen, wird sich
dem Studio B Kollektiv wohl nie erschließen und wir werden
dennoch nicht müde, kopfschüttelnd und fragend ob solcher Titel
zurückzubleiben. Die aus Minnesota stammende und in Baltimore
lebende Autorin Anne Tyler, welche 1941 geboren wurde, schrieb
bereits über 20 Romane und erhielt unter anderem den Pulitzer
Preis sowie den Sundy Times Award für ihr Lebenswerk. Ihr Roman
Der Sinn des Ganzen wurde 2020, wie auch einige andere ihrer
Veröffentlichungen, vom Züricher Verlag Kein & Aber in
deutscher Ausgabe herausgegeben.


Wir tauchen ein in das Leben des Protagonisten Micah Mortimer,
den die Autorin, passend zu ihrem eigenen Wohnort, in Baltimore
ansiedelt. Dort lebt er in einer 3-Zimmer-Souterrainwohnung die
eher sparsam eingerichtet – die meisten Möbel befanden sich schon
beim Einzug darin – aber dafür sehr gepflegt ist. Denn Micah ist
sehr penibel, wenn nicht sogar pingelig in Bezug auf Ordnung und
Sauberkeit, was eins der Dinge ist, die ihn ausmachen. Im
Klartext heißt das, dass es bei ihm z.B. einen Bodenwischtag
gibt, oder auch einen Küchentag, was bedeutet, dass an diesem Tag
alle Geräte in der Küche sowie ein Schrank geputzt werden. Diese
feste Struktur findet sich auch in seinem Alltag wieder, den er
mit Joggen sowie anschließendem Duschen und Frühstück beginnt.
Danach widmet er sich seinen Kunden, denn sein überschaubares
Gehalt verdient er mit seiner kleinen Computerfirma die den
witzigen Namen Tech Eremit trägt. Ein sprachlicher Kniff mit dem
die Autorin ihrem Protagonisten nicht nur einen gewissen Humor
unterstellt (oder sich über ihn lustig macht), sondern auch die
Einsicht des Selbigen ein Dasein in einer gewissen
Abgeschiedenheit zu führen. In diesem sehr zurückgezogenen Leben
verdient er sich zusätzlich noch etwas als Hausmeister hinzu,
indem er Reparaturen und sonstige anfallende Arbeiten in seinem
Mietshaus erledigt.


So weit so gut. Es klingt nach einer eher banalen Geschichte die
Anne Tyler uns hier erzählt, der Clou besteht jedoch darin, dass
sie es schafft, den Lesenden sofort Anteil am Leben ihres
Protagonisten nehmen zu lassen. Wie bei einer Serie, die man
einmal angefangen hat zu schauen und nicht mehr aufhören kann,
möchte man nun wissen, was es mit Micah Mortimers Leben auf sich
hat und was ihn bewegt. Doch entgegen des überhaupt ersten Satzes
des Romans, der da lautet: „Man wüsste wirklich gern, was im Kopf
eines Mannes wie Micah Mortimer vor sich geht.“, erfährt man, was
in seinem Kopf vor sich geht. Denn die Autorin lässt uns,
zumindest teilweise, daran teilhaben. Und dabei ist sie
meisterhaft im Erzählen des Alltäglichen und im Einbringen von
immer neuen Handelnden, die letztlich alle ein kleines Rädchen im
großen Getriebe bedienen und viele kleine und teilweise witzige
Episoden entstehen lassen.


Durch ihren Detailreichtum, die genauen Beobachtungen und auch
die Liebe zu ihren Figuren schafft es Anne Tyler die Geschichte
eine Mannes zu erzählen, den man als absolut durchschnittlich und
prototypisch, ja langweilig bezeichnen würde und die dennoch für
den Lesenden nie langweilig wird. Der korrekte Micah, der sich
irgendwie in seinem Leben eingerichtet hat und gerade so über die
Runden kommt, abgestraft vom Leben, weil er vor vielen Jahren das
große Geld hätte machen können – aber kein Patent angemeldet hat
– ist aber trotzdem keiner, der sich groß beklagt. Er hat eine
Freundin – Cass – die sicher nicht seine große Liebe ist, aber
man hat sich arrangiert und schließlich sind es die Gewohnheiten,
die Micah so zu schätzen weiß.


Eines Tages steht plötzlich ein junger Mann namens Brink vor
Micahs Tür und behauptet sein Sohn zu sein. Brink ist der Sohn
von Micahs Jugendliebe und kann rein biologisch gar nicht Micahs
Sohn sein, was ihm natürlich sofort klar ist. Dennoch ist Micah
dem Jungen gegenüber aufgeschlossen und lässt ihn sogar bei sich
übernachten. Man gewinnt den Eindruck, dass er etwas für ihn
übrig hat, was einmal mehr deutlich macht, dass Micah nicht der
abgestumpfte Computernerd ist, für den man ihn aufgrund des
Namens seiner Firma halten könnte. Zu allem Übel macht seine
Freundin Cass schließlich auch noch mit ihm Schluss. In relativ
kurzer Abfolge lässt Anne Tyler das Leben ihres Protagonisten
also aus seiner gewohnten und so liebgewonnen Routine entgleiten.
Trotzdem bleibt die Art des Erzählens völlig ruhig, was Micah zu
einem Protagonisten macht, der unspektakulärer kaum sein könnte
und doch sind er und seine Geschichte alles andere als
langweilig.


Anne Tyler hat einmal gesagt: „Das Lesen von Eudora Welty in
meiner Kindheit zeigte mir, dass ganz kleine Dinge in
Wirklichkeit oft größer sind als die großen Dinge.“ Es ist diese
Einsicht, die auch in ihrem Roman stets mitschwingt. Sie
erschafft eine Art Prototyp eines Alltagshelden, dessen Leben
nicht die große Erfolgsgeschichte ist, sondern der sich Tag für
Tag durchbeißt und seiner Arbeit und seinen Gewohnheiten
nachgeht. In seiner Höflichkeit ist er fast rührend und er hat so
einige Marotten, doch wer hat die nicht. Aber unser Protagonist
hat es auch nicht so leicht, weil er in zwischenmenschlichen
Dingen schon mal etwas nachlässig ist und sich dadurch auch
Konflikte einhandelt, deren Ursache er im Rückblick nicht so
recht nachvollziehen kann. Aber man muss ihn einfach gern haben
und wünscht ihm die ganze Zeit, dass alles gut werden möge. Es
sind die großen Fragen die Anne Tyler in einem, für die breite
Masse nachvollziehbaren, Setting ansiedelt und dadurch einen
Zugang schafft.


Völlig unaufgeregt und mit viel Einfühlungsvermögen schafft es
Anne Tyler einen innerhalb kürzester Zeit in ihren Bann zu ziehen
und in das Leben von Micah Mortimer einzutauchen. Im Nu ist ein
Nachmittag um und man hat nicht nur Anne Tylers Art zu schreiben
lieben gelernt, sondern kann vielleicht auch über die eigenen
Macken leichter mit einem Augenzwinkern hinwegsehen, so wie man
Micah Mortimer einfach nur alles Gute wünscht. Möglicherweise
geht es gar nicht immer um den großen Sinn, sondern einfach das
Sein.


In der nächsten Woche stellt Irmgard Lumpini das Buch "Ich
träumte, ich hätte einen Wetterhahn gesehen" mit Erzählungen und
Kurzgeschichten von Margarete Beutler vor, der überwiegend
Erstveröffentlichungen aus ihrem Nachlass enthält.


This is a public episode. If you would like to discuss this with
other subscribers or get access to bonus episodes, visit
lobundverriss.substack.com

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15
:
: