Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung

Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung

9 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Es gibt Menschen, die schaffen es mit einer ganz besonderen
Leichtigkeit durchs Leben zu gleiten, auf das wir nicht anders
können, als sie zu beneiden. Oft sind diese Menschen sehr schön,
aber das ist keine Bedingung. Sie sind gerne klug oder wenigstens
gebildet, was mir fast ein Hinderungsgrund scheint, aber so sei
es. Reichtum oder wenigstens auskömmliche Verhältnisse helfen
enorm.


Eine solche Person erzählt uns von ihrem Leben in Ottessa
Moshfeghs “Mein Jahr der Ruhe und Entspannung”. Schon der Titel
verbreitet selbstbewusstes Wohlgefühl, wüssten wir nicht, dass
das nicht sein kann. Wer schreibt schon ein Buch über ein Jahr,
in dem es ruhig ist und aus dem man mit ausserordentlicher
Fluffigkeit heraus kommt. Ein Konflikt muss her und so ein
richtig gründlicher deutscher Leser wird keine Seite dieses ganz
hervorragenden Buches lesen können, ohne die Frage aus dem Kopf
zu bekommen “Was ist ihr f*****g Problem?!”.


“Sie” ist die namenlose Erzählerin, eine bildschöne, weiße New
Yorkerin mit genug Geld um nicht wirklich arbeiten zu müssen. Sie
ist in ihren Zwanzigern, lebt in einem dieser typischen Upper
East Side Appartementhäusern, in dem ein altgoldener Fahrstuhl
und ein Portier nicht wirklich etwas mit Glamour zu tun haben, wo
das einfach so ist. Sie ist recht kürzlich zur Waise geworden.
Ihr Vater ist schon vor einiger Zeit an Krebs gestorben, ihre
Mutter hat sich mit Tabletten und Schnaps aus dem Leben geworfen
und wir atmen auf. Ein Problem! Wir haben es gefunden! Man kann
so reich und schön sein wie man will, ein abgefucktes Elternhaus
holt dich wieder runter in unsere abgefuckte Ebene. Gottseidank!


Unsere Erzählerin tut aber gar nicht dergleichen. Sie sitzt in
ihrem Apartment und schaut neuklassische Filme auf DVD,
Meisterwerke des 80er und 90er-Jahre Unterhaltungs-Kinos, gerne
mit Harrison Ford und noch lieber mit Whoopi Goldberg. Sie
versorgt sich, wie sich das in New York gehört, mit
Lieferdiensten und einem täglichen Gang zur Bodega, den typischen
New Yorker Eckläden, in denen es alles gibt - vom Klopapier bis
zum Pastramibrötchen. Betrieben wird ihre Bodega von jungen,
grimmig dreinschauenden, aber nicht unfreundlichen “Ägyptern”,
bei denen sie schlechten Kaffee kauft und die Headlines der
Zeitungen in den Regalständern liest. Mehr zum Zeitvertreib und
“weil man das so macht” geht sie “Arbeiten”. Sie hat
Kunstgeschichte studiert und sitzt ein paar Stunden am Tag am
Empfang einer Kunstgalerie, wenn sie sich nicht in den
Abstellraum verzieht um zu “nappen”. Denn wenn sie etwas
eigentlich liebt, dann ist es das Schlafen!


“Wer will denn die ganze Zeit schlafen?! Da ist doch was nicht in
Ordnung! Mit der stimmt doch was nicht!”, weiß der innere Monolog
der Lesenden ganz sicher. “Die hat doch ein Problem! Die will dem
Leben ENTFLIEHEN!”, haben wir es schon die ganze Zeit gewusst.


Unsere Protagonistin jedoch, klug und selbstreflektiert, erweckt
nicht wirklich diesen Anschein. Mit der Ernsthaftigkeit eines
Connoisseurs mixt und matcht sie diverse frei verfügbare und
verschreibungspflichtige Medikamente um einen perfekten,
möglichst langen Schlaf zu erzeugen. Wie sich Rennradjunkies mit
immer aufwändigeren technischen und sportphysiologischen Tricks
zu immer krasseren Adrenalin- und Endorphinhochs strampeln,
bemüht die Erzählerin die pharmakologische Industrie und eine
batshit-crazy Psychotherapeutin, die ihr die entsprechenden
Rezepte ausstellt, mit nur einem Ziel: einen tiefen, traumlosen
Schlaf von vielen Stunden, bevorzugt Tagen, zu erreichen. Wir
danken den freiwilligen Pharmajunkies auf wikipedia.com jedesmal,
wenn wir die immer verrückter klingenden Medikamentennamen auf
dem Kindle antippen und diese uns kurz erklären, was das
Wundermittel tut. Dass z.B. Librium oder Noctec tatsächlich
Medikationen zur Bekämpfung von Insomnia sind. Alles was der
amerikanische Pharmamarkt hergibt, plus ein paar fiktive Pillen,
wirft sich die Protagonistin ein, damit es keinen Morgen gibt.


In den immer weniger werdenden Stunden, in denen sie wach ist
oder zumindest wach genug, um die Wohnungstür auf zu machen,
besucht sie Reva, eine alte Highschoolfreundin, die auch in New
York lebt, wenn auch völlig anders: Reva ist die sich ständig als
zweite fühlende, von medialen Frauenbildern geprägte,
oberflächliche “alte Freundin”, die man nicht mehr los bekommt,
weil man sie “schon immer kennt”. Hier findet der Leser Erlösung
von der störrischen Erzählerin, die seine Erwartungen nicht
erfüllt und selbstzufrieden döst.


Er kann sich jetzt um Reva sorgen! “Reva, wach auf!”, ruft der
Leser, was rennt sie wie ein kopfloses Huhn rum und versucht den
perfekten Mann, das ideale Gewicht, die fehlerlose Schönheit zu
finden? Sie ist doch ein perfekt normales, nicht unkluges Mädel
aus der Vorstadt, die ihr Glück schon machen wird. Was sie nicht
verdient hat, ist die Verächtlichkeit unserer Protagonistin, die
sich von der Vorsorglichkeit ihrer einzigen Freundin einfach nur
gestört fühlt auf ihrem Weg aus oder ins Delirium.


Der eher sorglose Leser, der diese Rezension schreibt, stellt
sich jedoch, logisch, auf die Seite der Erzählerin. Reva nervt
einfach nur. Ständig kommt sie mit billigem Schampus oder Gin an
und versucht die endlos lange Nacht zu ihrem belanglosen Tag zu
machen. Sie zickt rum, wenn man nicht mitgeht auf ihre hirnlosen
Parties um einen hirnlosen Macker abzugreifen, der einem
irgendwann den Gang ins Büro erspart und am Ende schläft sie
neben einem auf dem Sofa ein, nachdem sie zum zwölften mal
erzählt hat, wie toll es war zusammen auf der High School. Und
man selbst ist wach! So rum war das nicht gedacht! “No means no!”
und wenn jemand zum zwölften mal nicht versteht, dass das alles
seinen Sinn hat, was man hier machen will und selbst wenn nicht,
geht es die eingebildete beste Freundin einen s**t an!


Aber, so reagiert nur der Rezensent. Pharmakologisch oder
charakterlich verursacht bleibt die Schlafwandlerin in allen
Lagen entspannt und gibt keinen allzu großen f**k. Ihr ist ihre
Freundin weder besonders wichtig noch besonders egal. Sie sitzt
in ihrem Appartement, schaut Whoopi Goldberg und ob Reva nun da
ist oder nicht, es ist ihr wurscht. Denn das ist ihre Superpower:
keinen f**k geben. Wie wir in der Studio B Diskussion sehen
werden, wird “Mein Jahr der Ruhe und Entspannung” nicht nur im
Rezensentinnenkollektiv höchst unterschiedlich rezipiert, von
beeindruckter Belustigung bis zur Abscheu ob des
Kontrollverlustes, dem sich die Hauptheldin aussetzt, kann man
die Story aus vielen Blickwinkeln lesen. Für mich ist es ein
Lehrbuch in Gelassenheit. Wer gibt wirklich einen S**t, ob Du im
Morgenmantel zum Eckladen gehst. Wie wichtig ist es, mit den
richtigen Künstlern zu verkehren statt den “falschen”. Das Leben
ist unberechenbar, also versuche es nicht deinen Planungen zu
unterwerfen. Aus dieser Perspektive betrachtet wird das Buch zu
einem entspannten Lesevergnügen.


Aber das ist nicht die einzige Lesart. Hatte ich erwähnt, dass
die Story im Sommer 2000 beginnt? Man überliest es zunächst und
wird nur durch die eine oder andere in der Bodega überlesene, im
Vergleich zu heute absurd unaufregende historische Schlagzeile
daran erinnert. Spätestens im Buchherbst, wenn unsere
Protagonistin die harten Pharmacocktails rausholt und die
Planungen zu einem mehrmonatigen Schlafmarathon beginnen, schwant
einem dann, wann das Jahr der Ruhe und Entspannung enden wird und
der immer tiefsinnige deutsche Leser wird seinen Zeigefinger
heben und sagen:


“Aha! Eine Parabel! Das letzte Jahr der Ruhe und Entspannung!
Denn dann kam der 9. September (Denn der deutsche Leser muss
immer allen anderen die einfachsten Dinge erklären, der arrogante
Depp.)”


Der eher zur Untiefe neigende Rezensent sagt “Nice trick!”, eine
sublime Art und Weise den Leser bei der Stange zu halten ob eines
nicht wirklich “deepen” Buchs, das sujetbedingt immer mal wieder
zum “Anhalten” neigt. Außer Schlafen, TV und sich nicht mehr
erinnern können, was man schlafwandelnd getan hat, passiert nicht
viel. Eine Reise in die Vorstadt, zur Beerdigung von Freundin
Revas Mutter ist fast schon der Gipfel der Action. Das Buch ist
die ideale Vorlage für den indiesten Indiependentfilm, spielend
im Jahrzehnt des Indiefilms, den Nuller, aber da eine Filmvorlage
vom Leser Phantasie fordert, was nun wirklich nicht zu verlangen
ist vom tiefsinnigen deutschen Leser, streusselt Ottessa
Moshfeghs dieses gleichzeitig minimale und maximale Target in das
Rezipientenhirn: NINE-E-LE-VEN! - Ich habe mich köstlich amüsiert
zumal es wirklich nur das ist, eine kleine Fata Morgana in der
Wüste der Inaktivität und hätte mir gewünscht, der Roman hätte,
nein, noch nicht mal am 10. September 2001 geendet, das wäre ja
schon wieder Effekt gewesen, sondern, sagen wir am 3. September.
Einfach so. Wie bedeppert hätte der tiefsinnige deutsche
Literaturfreund ausgesehen.


Aber wie, und ob dramatisch, “Mein Jahr der Ruhe und Entspannung”
endet, lasse ich als minimalen Cliffhanger zusammen mit einer
hoffentlich offensichtlich gewordenen Empfehlung dem geneigten
Leser zur eigenen Entdeckung in einem der facettenreichsten
Bücher seit langem.


Und ich muß nun also zum nächsten Buch von Ottessa Moshfegh
greifen, die Frau hat es schwer drauf!


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