Jeanine Cummins: American Dirt

Jeanine Cummins: American Dirt

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Beschreibung

vor 1 Jahr

Das erste Kapitel von “American Dirt” ist sicher eines der
härtesten, die man seit langem hat lesen müssen. Aus der Sicht
des achtjährigen Luca erleben wir, wie dessen achtzehnköpfige
Familie bei einem Massaker durch ein mexikanisches Drogenkartell
auf ihn und dessen Mutter Lydia dezimiert wird. Psychologisch
effektvoll erleben wir das Ganze nur durch sekundäre
Beobachtungen des jungen Luca - Geräusche, Gerüche, Geschrei -
der zufällig im Augenblick des Überfalls im ersten Stock des
Hauses pinkeln ist, während im Garten das Mordkommando arbeitet.
Kurze Zeit später kommt seine Mutter Lydia ins Bad gestürzt und
zusammen erleben sie die Katastrophe, versteckt hinter einem
Duschvorhang.


“Moment!”, ruft da Heiko Schramm, Freund der Show und ehemaliger
Rezensent ebenda, dem Ihr im Übrigen diese und die zwei weiteren
Rezensionen ein- und desselben Werkes anregungsweise zu verdanken
habt. “Im Prolog von Don Winslows ’Tage der Toten’ bringt ein
Kartell aber eine neunzehnköpfige Familie um! Einer mehr!”


“Das ist wohl wahr.”, antworten wir, aber es gibt einen
Unterschied. Zu dem kommen wir gleich, handeln wir jedoch
zunächst kurz ab, was sonst noch in “American Dirt” passiert: Das
Buch ist lang, doch die Handlung ist simpel und linear; in einem
Satz zusammengefasst: Mutter und Sohn, Lydia und Luca, als
einzige Überlebende der Familie Perez offensichtlich im
Fadenkreuz der Killer des Kartells “Los Jardineros”, fliehen in
die USA. Das war’s. Die Handlung wird entweder aus der Sicht
Lydias oder Lucas beschrieben, sie verzweigt niemals, und ausser
ein paar Rückblenden auf das Leben der Familie vor dem Massaker
geht es straight von Acapulco im Süden Mexikos nach “El Norte”,
nach Norden, nach Arizona, United States of America.


Kein Stück Kritik von mir dazu, dieser Rezensent braucht keine
Vorblicke, Rückblicke oder Handlungsstränge, die sich irgendwo
treffen und wieder verlieren, wenn jemand gut schreibt und einen
Plan hat, worüber er schreibt und das in die Tat umsetzt, hat sie
in meinem Kassenbuch der Literaturkritik einen ausgeglichenen
Kontostand, Soll und Haben in neutralem schwarz, Doppelstrich
drunter und abheften.


Jeanine Cummins, die Autorin, die mit “American Dirt” ihr viertes
Buch vorlegt, schreibt gut, ja, sehr gut, sie weiß, worüber sie
schreiben will und setzt das in die Tat um. “Tinder Press”, ihr
amerikanischer Verlag, fügt dem Titel auf Amazon noch einen
Doppelpunkt und die Worte “The heartstopping story that will live
with you forever" hinzu und die New York Times Bestsellerliste
hat einen neuen Number-One-Hit.


Und doch: Irgendetwas stimmt nicht.


Justin E. H. Smith ist nicht der Sänger von The Fall, er ist ein
Essayist, unter anderem auch hier auf Substack. Er ist
Schriftsteller und Philosoph, aber einer von den “Neuen”,
Jahrgang 1972 und betreibt sein Geschäft in feiner Abwägung
zwischen Breite und Tiefe, will sagen, er ist eher Habermas denn
Richard David Precht, nicht konform, aber auch nicht
pseudo-nonkonformistisch wie der Perückenträger aus Solingen.
Sein jüngstes Werk, aktuell nur auf englisch erhältlich, trägt
den Titel “The Internet Is Not What You Think It Is: A History, a
Philosophy, a Warning” und beschäftigt sich mit unserer aktuellen
Art und Weise, unser Leben zu betreiben. Unvermeidlich in einem
solchen Buch ist das Wort “Algorithmus”, der, der unser Leben
angeblich bestimmt. Es beschreibt das Phänomen, dass wir heute
von Amazon und Google beraten werden, wo wir doch früher von
Freunden die neuesten Bücher, Platten, Videos empfohlen bekamen
und nicht etwa von Buchhändlern, Plattenverkäufern und
Videoverleihs mit großen John-Travolta-Aufstellern in der Tür.
Aber natürlich hat sich etwas verändert. Ohne meine
Youtube-History regelmäßig zu löschen, würde ich seit fünf Jahren
algorithmisch gesteuert nur Talkshows aus dem
Achtziger-Jahre-Westfernsehen sehen, in denen zwischen den
Kameraeinstellungen gewechselt wird, nicht um mal eine andere
Seite vom Kinski zu zeigen, sondern weil zwischen Kamera und dem
Erdbeermund Helmut Schmidt sitzt und die Sichtlinie zu qualmt.
Justin E. H. Smith lamentiert jedoch nicht den vermeintlichen
Kontrollverlust des Konsumenten, er denkt einen Schritt weiter
und darüber nach, ob das größte Problem an den “Algorithmen”
vielleicht gar nicht sei, dass wir in Bubbles landen und ein
Leben lang die gleichen Youtube-Videos schauen müssen. Smith
bemerkt eher, und sehr kritisch, dass auf der anderen Seite des
Empfangsgerätes, bei den Filmemachern, den Musikern und ja, den
Schriftstellerinnen, eine bewusste oder unbewusste Anpassung and
den Algorithmus “passiert”, ja, dass es kreativen Menschen, wie
er befürchtet, aus verschiedenen Gründen unmöglich sein könnte,
sich den Algorithmen nicht anzupassen, dass diese uns die
Freiheit und Vielfalt in der Kreativität rauben könnten.


Es sollte klar werden, worauf ich hinaus will. Ich nehme Jeanine
Cummins, Autorin von “American Dirt”, proaktiv in Schutz, ich
nehme ihr als Autorin jeden Vorwurf der Berechnung; aber das Buch
ist ein Paradebeispiel einer innerlichen Algorithmisierung des
eigenen Werkes. Ich bin zu hundert Prozent sicher, dass Frau
Cummins angesichts der Greuel des aktuellen mexikanischen Alltags
empört ist und sicher auch deshalb den Entschluss gefasst hatte,
dieses Thema zu verarbeiten. Ihre öffentlich bekannte Biographie
enthält Echos ähnlicher Ereignisse, wie im Buch dargestellt. Als
der Roman entstanden ist, instrumentalisierte der damalige
Präsident Trump den Flüchtlingstrek, der sich von Mittelamerika
durch ganz Mexiko bis an die US-amerikanische Südgrenze
erstreckte und auf dem zigtausende Menschen auf der Flucht waren.
Und natürlich war vor allem “La Bestia” in den Nachrichten zu
sehen, “El tren de la muerte”, “Der Todeszug”. Wie gut senden
sich doch beeindruckende Bilder kilometerlanger Güterzüge, auf
denen Menschen sitzen, an denen Menschen hängen und so versuchen,
an die US-amerikanische Grenze zu gelangen. Wie grausam muss das
Schicksal sein, solche wahnwitzigen, lebensgefährlichen Wege zu
gehen? Das bringt Klicks und mit ein bisschen Manipulation
Wählerstimmen. In diesem Umfeld einen hochemotionalen Roman zum
Thema zu schreiben erfordert Vorsicht, wenn er gut werden soll.
Oder wenigstens authentisch. Oder wenigstens nicht unrealistisch.
Jeanine Cummins jedoch hatte ihre Checkliste wohl vorm Beginn des
kreativen Prozesses komplett und musste nur noch ihre wirklich
gute Schreibe darauf loslassen und es sollte etwas Brauchbares
herauskommen:


Ein investigativer Journalist stirbt: check.


Ein Massaker wie in Winslows “Day of the Dogs”: check.


Eine Flucht: check.


“La Bestia”: check.


Was fehlt? Achso, na klar, Busse mit Teenagern, die in
Drogenbandencheckpoints geraten: check.


Der Rest ist Folklore und genau die richtige Menge Spanizismen,
die man ohne Übersetzung versteht, fürs feeling, you know?


Man ist ungefähr dreißig Prozent im Buch und begreift, dass es
das tatsächlich ist. Dass es keinerlei Überraschung geben wird.
Man denkt zu Beginn, dass es vielleicht um das Leben als Emigrant
in den Vereinigten Staaten gehen wird, die Flucht nur die
Einleitung ist, immerhin heißt das Buch “American Dirt” und nicht
“Tierra mexicana”. Aber, nach zweihundert Seiten Klischee und
endlosen Absätzen in denen uns die Autorin immer wieder erklärt,
wie sehr Lydia trauert, mit Rückblenden an ihr früheres “schönes”
Leben, so als würden wir als Leserinnen das nicht beim ersten,
zweiten oder .. achten mal verstanden haben, dazu einem abstrusen
Handlungsstrang, den wir hier mal nicht spoilern wollen, und wenn
es sich immer mehr abzeichnet, dass es um “La Bestia” gehen wird,
den Füchtlingsgüterzug, fragt man sich ungläubig: “Echt? Really?
Verdaderamente?”, pardon my spanish.


Ja, diese Idee hatte Frau Cummins: Die Protagonistin, Frau eines
Journalisten und Besitzerin einer Buchhandlung, die aus dem
modernen Kleinbürgertum gerissene Lydia Perez, mit 10.000 Dollar,
nicht Peso, Dollar, amerikanischen, in Cash in the Täsch, auf der
Flucht vor dem Kartell, springt, nicht einmal, nein, mehrmals,
mit ihrem achtjährigen Sohn auf den fahrenden Flüchtlingsgüterzug
“La Bestia”. Sie nimmt sich kein Mietauto (oder kauft sich
einfach eines) oder ein Flugticket oder begibt sich auf eine
Kreuzfahrt, oder, oder, oder.. Nein. Sie hat ein
durchschnittliches mexikanisches Jahresgehalt in bar in der
Tasche und springt von Autobahnbrücken auf fahrende Züge. Mit
einem achtjährigen Sohn an der Hand. Ok, ich bin so ziemlich der
inkompetenteste Kommentator dieser Handlungsentscheidung, weiß,
männlich, komplett unbedroht und zehntausend Kilometer entfernt
und ich lehne mich entsprechend ganz weit aus dem Fenster, wenn
ich sage: “No. F*****g. Way.”


Aber vielleicht bin ich ein kompletter Idiot und das ist wirklich
der beste oder der einzige Weg der Verfolgung durch ein
mexikanisches Drogenkartell zu entkommen. Ok, Jeanine Cummins,
aber dann erkläre es mir bitte, das ist dein Job als Autorin.
Gehe mit mir die Optionen durch, erkläre es mir wie Deinem
achtjährigen Sohn! Oh. Dem Du es auch nicht erklärst. Nein, die
Entscheidung, wie es nach der Flucht aus der Provinz um Acapulco
und dem unmittelbaren Zugriff durch das Kartell “Los Jardineros”
weitergeht, wird auf einer Seite abgehandelt: “Das Kartell sucht
nach uns. Man erkennt uns auf der Straße, ”halcones”, Falken,
bezahlte Informanten des Kartells, halten nach uns Ausschau. ‘La
Bestia’ fährt durch das Gebiet, in denen die “Los Jardineros”
keine Falken haben. Ergo: ‘La Bestia’ ist der einzig verbleibende
Fluchtweg.”


Warum ich mich so über diese Plotentscheidung aufrege? Die Fahrt
auf “La Bestia” dauert das halbe Buch. Es passiert nichts
anderes. Und das merkt auch Jeanine Cummins. Das Buch droht
langweilig zu werden und ohne den Plot zu ändern, bleibt nur
eines, um den Leser immer wieder bei der Stange zu halten:
emoción! Muchos emociónes! Grande emoción!


Der US-amerikanische Musiker und Podcaster John Roderick, dem ich
mit einer gewissen Devotion folge (und hier ganz nebenbei
empfehle) ist Anfang Fünfzig und hat eine Tochter in etwa dem
gleichen Alter wie der kleine Luca in “American Dirt”. In einer
Episode seiner zahlreichen Podcasts postulierte er kürzlich,
dass, seit er selber ein Kind habe, er eines in Film und TV nicht
mehr ertrage: wenn Kinder in Gefahr gebracht werden. Früher hätte
es ihm nichts ausgemacht, heute jedoch, als Vater, sei es
unerträglich. Er finde es billig, einen grausamen
Taschenspielertrick auf Kosten des Rezipienten, und die Lektüre
von “American Dirt” bringt mich dieser Argumentation näher. Jede
Autorin kann natürlich schreiben, was sie will, die Grenzen sind
für mich weit, nahezu unendlich. Du willst über Sodomie
schreiben, übers Kotzen, Scheißen, Wichsen, go for it, dein
Privatvergnügen und das findet im Allgemeinen ein Publikum. Aber,
sobald Du in Deinen Werken moralischen Anspruch transportierst
endet die Freizone. Hier musst Du Dich als Autor im Gegenzug mit
moralischen Ansprüchen des Lesers auseinandersetzen und diesen
genügt das aufs Spiel setzen des Sohnes der flüchtenden Lydia,
einzig um den Leser bei der Stange zu halten, nicht. Zumal,
berechenbar wie das Buch ist, jeder Leser weiß, dass Luca nicht
sterben wird. Es wird ein anderer, fast gleichaltriger Junge
sein, der den Trek nicht überlebt, und hier, vielleicht
überraschend, habe ich keinerlei moralische oder inhaltliche
Bedenken im Angesicht dieser grausamen Wendung. Es kommen auf der
Flucht aus Mittelamerika in die USA, und, schlimmer, auch nach
dieser, Minderjährige um, und das zu thematisieren ist berechtigt
und wirksam. Es passiert im Roman plötzlich und ist sinnlos wie
alles an dieser Fluchtbewegung. Wir trauern um Beto, ein
asthmatisches und viel zu kluges Waisenkind aus den Slums von
Tijuana und sind moralisch empört. Und wissen gleichzeitig, dass
Luca nun erst recht nicht sterben wird, also, liebe Jeanine,
verschone uns mit der zehnten Situation, wo Dir kein
Spannungsbogen einfällt und Du uns nur billig Angst machen
möchtest. Denn man kann so kinderlos sein, wie man will, die
Angst vor dem Verlust des Nachwuchses ist fest einprogrammiert,
wenn wir sowas sehen, hören, lesen, krampft der Magen, schluckt
der Adamsapfel. Es ist die stärkste und damit die billigste
Waffe, den Leser bei der Stange zu halten.


Und hier liegt auch der Unterschied zu Don Winslows
Kartell-Trilogie: Ja, die Massaker dort sind noch entsetzlicher,
die blutigen Enden mehr oder weniger liebgewonnener Handelnder
zahlreich, aber sie sind immer entweder handlungsnotwendig oder,
so grausam das ist, Hintergrund, Bebilderung. Sie sind also
zwingend. Wir haben bei Winslow daher immer die Wahl, emotional
zu reagieren oder rational, empört oder lakonisch, entsetzt oder
achselzuckend. Diese Wahl lässt uns Jeanine Cummins nicht, sie
schreibt einen emotionalen Verkehrsunfall und keiner kann
wegschauen.


Und so ist “American Dirt” leider nur ein Buch, das hätte gut
sein können. Na klar, Bestsellerliste, Millionenerfolg - das muss
man erstmal hinbekommen und das schafft man im Allgemeinen nicht
mit einem Groschenroman. Oder aber eben doch? Einfache Sprache,
ein Handlungsstrang, der keine großen Kenntnisse von Lage und
Gebiet braucht, jedes Klischee des Settings bis aufs I-Tüpfelchen
vorgebracht und viel, viel Kitsch und Emotion - fertig ist der
Bestseller. Wir lernen kaum Neues, es werden keine überraschenden
Perspektiven eingenommen und das ist so unendlich schade. Denn,
wo es große Gegensätze gibt, zwischen Gut und Böse, zwischen
Reich und Arm, in Landschaft und Meteorologie, gibt es unendlich
Stoff, den zu entdecken und verarbeiten es lohnt. Jeannine
Cummins jedoch ging den einfachen Weg - und ich den damit
schweren, weil gleichzeitig langweiligen und emotional grausamen
durch dieses Buch - damit Ihr das nicht tun müsst.


In den nächten zwei Episoden von Studio B - Lobpreisung und
Verriss wird zunächst Anne Findeisen und danach Irmgard Lumpini
“American Dirt” rezensieren und sicher zu anderen, interessanten
Schlüssen kommen. Ich werde die Zeit nutzen, mich mit Geschichte,
Gegenwart und Zukunft von “cultural appropriation” zu
beschäftigen und versuchen herauszubekommen, was “kulturelle
Aneignung” eigentlich sein soll, denn das wird spätestens zur
Diskussion zum Buch abgefragt werden.


Spannende Wochen!


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