Verlauf und palliativmedizinische Behandlung in der Terminalphase bei Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose

Verlauf und palliativmedizinische Behandlung in der Terminalphase bei Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose

Beschreibung

vor 20 Jahren
Beinahe alle ALS Patienten entwickeln im Verlauf ihrer Erkrankung
Symptome einer respiratorischen Insuffizienz. In diesem
Zusammenhang wird von den Betroffenen regelhaft die Angst vor dem
Erstickungstod geäußert. Bis zur Erstveröffentlichung der eigenen
Ergebnisse gab es nur wenige Daten über die Terminalphase der ALS.
Diese betrafen ausschließlich Patienten, die in einem Hospiz
gestorben sind oder von einer derartigen Einrichtung in der
Sterbephase betreut wurden [O’Brien 1992; Oliver 1996]. Mit der
Absicht, diese Erstickungsängste zu entkräften, führten wir eine
retrospektive Studie über den Verlauf der Terminalphase der ALS
durch. Dazu sichteten wir die Unterlagen und/oder Akten von 202
Patienten der Motoneuronambulanz an der Neurologischen Klinik der
Universität München, die mit einer wahrscheinlichen oder sicheren
ALS von Januar 1995 bis März 1999 gestorben waren. In 121 Fällen
war es möglich, ein strukturiertes Telefoninterview mit der
Hauptpflegeperson der Patienten durchzuführen. Die gestellten
Fragen konzentrierten sich - jeweils aus Sicht der
Hauptpflegeperson - auf die Symptome und den Grad des Leidens sowie
des Bewusstseins in der Sterbephase, den Sterbeort, das Verhältnis
zu lebensverlängernden Maßnahmen und die Palliativmaßnahmen, die in
der Sterbephase angewendet wurden. Insbesondere wurde nach
Medikamenten, vor allem nach Opiaten und Benzodiazepinen, wie auch
nach Ernährungshilfen und Beatmungsmaßnahmen gefragt. Von den 121
Patienten waren 50 weiblichen und 71 männlichen Geschlechts. Das
mittlere Sterbealter war 62,7 Jahre (27-86) und die mittlere
Erkrankungsdauer betrug 36,4 Monate (7-131). Bei 84 Betroffenen
begann die Erkrankung an den Extremitäten und bei 37 bulbär. Von
den Hauptpflegepersonen waren 83 Ehepartner/Lebensgefährte, 25
Kinder, acht Verwandte und zwei Bekannte oder Freunde der Patienten
sowie drei Krankenschwestern. Zu Hause oder in einem Pflegeheim
starben 74 Patienten. Die übrigen 47 Erkrankten verstarben in einem
Krankenhaus oder einer Palliativstation. Zwei Patienten haben sich
bewusst zum Sterben in eine Palliativeinrichtung aufnehmen lassen.
Die Todesursache war in 99 Fällen eine respiratorische
Insuffizienz. Jeweils acht Patienten verstarben an einer
Lungenentzündung und Herzversagen sowie zwei an einem Tumorleiden.
Einer der Erkrankten beging Selbstmord. Bei den restlichen
Patienten hatte der Tod verschiedene andere Ursachen. Der Tod trat
bei 33 Erkrankten in wachem, bei 75 in schlafendem und bei 13 in
komatösem Zustand ein. Symptome der letzen 24 Stunden waren bei 24
Patienten Dyspnoe, bei zehn Unruhe und Angst, bei neun Verschlucken
von Speichel oder Bronchialschleim, bei fünf Hustenanfälle und in
zwei Fällen diffuse Schmerzen. Diese Beschwerden wurden bis auf
sieben Fälle suffizient palliativmedizinisch gelindert. Kein
Patient unserer Studie ist erstickt und 107 (88,4%) der Kranken
starben friedlich. Sechs Patienten litten mäßig in der Sterbephase
und einer der Kranken starb qualvoll. Eine Reanimation wurde
erfolglos bei sechs Patienten durchgeführt und es kam zu einem
Suizid. Aktive Sterbehilfe wurde wiederholt von acht Erkrankten
gewünscht. Von diesen Patienten nahm sich einer tatsächlich das
Leben und drei weitere unternahmen je einen erfolglosen
Suizidversuch. Ferner äußerten 35 Betroffene mehrfach Sterbewünsche
und sprachen sich zudem, wie 40 weitere Patienten, deutlich gegen
lebensverlängernde Maßnahmen aus. Die verbleibenden 39 Untersuchten
gaben keine Sterbewünsche oder Stellungnahmen zu möglichen
intensivmedizinischen Schritten an. Ohne Beatmungsmaßnahme bis zum
Tod blieben 81 (66,9%) Erkrankte. In 21 Fällen wurde über
Nasenmaske und viermal über Tracheostoma eine Heimbeatmung
angewendet. Die mittlere Beatmungsdauer betrug 297 Tage (2-1695).
Bei weiteren fünf Patienten wurde diese Maßnahme wegen
Nebenwirkungen nur vorübergehend gebraucht. Das Tracheostoma wurde
von zwei Angehörigen und die Nasenmaske von 20 Pflegepersonen als
positiv bewertet. Intubationen wurden neunmal vorgenommen, wovon
sechs auf ausdrücklichen Patientenwunsch wieder rückgängig gemacht
wurden. Keiner der Hauptpflegenden würde, erneut vor die Wahl
gestellt, einer Intubation zustimmen. Mit einer PEG versorgt wurden
33 (27%) Patienten im Mittel über 192 Tage (6-1008). An
Nebenwirkungen traten zweimal schwere Infektionen auf, die zur
Sondenentfernung führten. Einmal kam es bei der Anlage der Sonde zu
einem Herzstillstand. Eine erneute Zustimmung zu dieser
Ernährungshilfe würden 30 (91%) der Angehörigen geben. Verweigert
wurde das erneute Einverständnis zur PEG-Anlage in sechs Fällen.
Die Gründe - aus Sicht der Angehörigen - waren zu gleichen Teilen
zum einen die Nebenwirkungen und zum anderen die durch diese
Maßname herbeigeführte Lebens- und somit Leidensverlängerung
Morphin wurde von 33 (27%) Patienten über eine mittlere Dauer von
sechs Tagen (1-52) eingenommen. Die mittlere Dosis für ein orales
Dosisäquivalent betrug pro Tag 90 mg (10-360 mg). Die
Hauptindikationen waren Atemnot (in 25 Fällen) und Schmerzen. Aus
Angst vor Nebenwirkungen verweigerten zwölf Patienten sowie vier
Ärzte den Einsatz von Morphin. Eine gute symptomlindernde Wirkung
bei geringen Nebenwirkungen wurde dem Präparat von 30
Hauptpflegenden bestätigt. Benzodiazepine wurden in 39 Fällen
eingesetzt. Die mittlere Anwendungszeit betrug 120 Tage (1-1400).
Bei 29 Patienten war die Angst vor Atemnot die Hauptindikation.
Aufgrund der Angst vor unerwünschten Wirkungen lehnten vier
Erkrankte die Einnahme von Benzodiazepinen ab. Ein sehr guter
palliativer Effekt dieser Substanzgruppe wurde von 33 Angehörigen
bemerkt. Insgesamt sind etwa 90% der untersuchten ALS-Patienten
friedlich gestorben, die Mehrzahl davon im Schlaf. Kein ALS-Patient
ist erstickt, und die Dauer der akuten zum Tode führenden
Verschlechterung betrug bei 2/3 der Erkrankten unter 24 Stunden.
Dies ist im Vergleich mit anderen Studien an Normalpatienten, in
denen die Spanne der friedlichen Sterbevorgänge von 47,5% ohne
sedierende Maßnahmen bis 94% unter den medizinischen Bedingungen
eines stationären Hospizes reicht, als deutlich
überdurchschnittlich anzusehen. Wenn eingesetzt, wurden PEG, die
nicht-invasive Heimbeatmung, Morphin und Benzodiazepine von den
Hauptpflegepersonen in den meisten Fällen als hochwirksame
palliative Therapien angesehen. ALS-Patienten sollten demnach,
spätestens beim ersten Auftreten von Atemschwierigkeiten, über den
natürlicherweise gutartigen Verlauf der Sterbephase aufgeklärt
werden. Zudem sind die Betroffenen über die gute Wirksamkeit von
palliativen Maßnahmen zu informieren. So können wirkungsvoll die
unberechtigten Ängste vor den Erstickungstod bei den Patienten und
deren Angehörigen zerstreut und die Lebensqualität aller von der
ALS Betroffenen verbessert werden.

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