084 — (Epistemische) Krisen? Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

084 — (Epistemische) Krisen? Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

Der heutige Gesprächspartner ist wieder Jan David Zimmermann, was mich sehr freut! Jan ist Autor, Journalist und Wissenschaftsforscher, hat auch gerade ein neues und äußerst empfehlenswertes Buch herausgebracht — Lethe, Vom Vergessen des Totalitären....
1 Stunde 18 Minuten
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Woher kommen wir, wo stehen wir und wie finden wir unsere Zukunft wieder?

Beschreibung

vor 5 Monaten

Der heutige Gesprächspartner ist wieder Jan David Zimmermann, was
mich sehr freut! Jan ist Autor, Journalist und
Wissenschaftsforscher, hat auch gerade ein neues und äußerst
empfehlenswertes Buch herausgebracht — Lethe, Vom Vergessen des
Totalitären. Außerdem ist er Redakteur beim Stichpunkt-Magazin.


Das heutige Thema ist »(Epistemische) Krisen?«. 


Eine Anmerkung vorweg: wir haben die Episode vor dem
Hamas-Terroranschlag  aufgenommen. Wir beide sind von der
darauf folgenden Welle des Antisemitismus in Europa, den USA und
Australien zutiefst schockiert. Besonders erschreckend ist daran
natürlich die Tatsache, dass zahlreiche antisemitische und
unfassbar inhumane Äußerungen von Personen, die zuvor als
Intellektuelle bezeichnet wurden, stammen — Personen, die an Unis
unterrichten, in Medien arbeiten, oder in politischen Funktionen
tätig sind. Hier findet sich leider wir ein Thema bestätigt, das
ich in vergangenen Episoden angesprochen habe und auch in
zukünftigen Episoden thematisieren werde: einen bedrückenden
Verlust an intellektueller Redlichkeit und Qualität in
wesentlichen gesellschaftlichen Institutionen wie etwa
Universitäten. 


Aber selbst wenn wir später aufgenommen hätten, hätte ich dieses
Thema ohnedies noch nicht im Podcast aufgreifen wollen. Auch wenn
die Eckpunkte dieses Konfliktes sehr klar sind, viele Details und
Folgen sind es nicht. Den Grund habe ich in früheren Episoden
schon mal erklärt: dieser Podcast beschäftigt sich ganz bewusst
nicht mit aktuellen Themen. Ich möchte hier nicht im medialen
Rennen um die knalligste Spekulation beteiligen. In der heutigen
Medienlandschaft dominiert das Rauschen  und erst, wenn der
Lärm leiser geworden ist,  oft nach einigen Jahren, kann man
anfangen, solche Themen vernünftig und in der Tiefe
aufzuarbeiten. 


Daher habe ich auch erst in diesem Jahr begonnen, Covid als Thema
langsam aufzugreifen und weitere Folgen sind in Vorbereitung.


Aber zurück zu dieser Episode: Was ist eine (epistemische) Krise?
Mit welchen Transformationen haben wir seit 2020 zu tun? Fallen
wir von einer Krise in die nächste, oder doch nicht? Warum ist
der Krisenbegriff selbst schwierig? Wer definiert eigentlich, was
eine Krise ist und wie groß sich diese darstellt, denken wir an
die stete Aufrüstung der Worte um noch Gehör zu finden: zur
gleichen Zeit, wie die IPCC-Szenarien mit dem letzten Bericht
optimistischer werden, wird die Sprache aufgerüstet, aus dem
Klimawandel wird die Klimakrise und nun die Klimakatastrophe. Was
folgt als Nächstes?


Und die Krisen machen vor sich selbst nicht halt, denn
diejenigen, die die Krisen ausrufen, unsere Institutionen und
Universitäten, stecken selbst in einer schweren Krise. Wir
erleben also vermeintlich multilple Krisen, und trotzdem fällt es
der Gesellschaft schwer sich auf gemeinsame Momente zu einigen!


Ein Kristallisationpunkt des Diskurses ist das Intenet? Aber
welche Rolle spielt es: ist es totalitär und radikal, verdummend
oder eher das Gegenteil?  Wird gar die Komplexität der Welt
heute besser gespiegelt als je zuvor, nur gefällt dies manchen
nicht, die sich zuvor in der Deutungshoheit gesehen haben?


Wie kann man der Gesellschaft komplexe Verhältnisse vermitteln?


“If you’re not confuse you’re not paying attention”, Tom Peters


Oder ist die Komplexität vielleicht nur ein Auswuchs, eine
Täuschung der Verwirrungen des postmodernen Relativismus? Wer
kann urteilen, oder besser: wem trauen wir Urteilskraft zu?


Intellektuelle Bescheidenheit und Umgang mit Fehlern und
Fehleinschätzungen scheinen immer wesentlicher zu werden und sind
dennoch selten zu finden.


»Das ist das Prinzip der dauernden Fehlerkorrektur: die Methode,
dauernd nach Fehlern zu suchen und frühzeitig kleine und
beginnende Fehler zu korrigieren. Diese Methode der rechtzeitigen
Fehlerkorrektur zu verfolgen ist nicht nur eine Weisheitsregel,
sondern geradezu eine moralische Pflicht: Es ist die Pflicht zur
dauernden Selbstkritik, zum dauernden Lernen, zu dauernden
kleinen Verbesserungen unserer Einstellung, unserer Urteile –
auch der moralischen – und unserer Theorien. Hier wird das Können
zum Sollen: wir können aus unseren Fehlern lernen; darum ist es
unsere Pflicht, aus unseren Fehlern zu lernen.«, Karl Raimund
Popper


Kann Selbstkritik als moralische Pflicht gelten? Wie sieht es mit
Heinz von Foersters Beobachtung zweiter Ordnung aus, und welche
Rolle spielt das ständige Reframen eigentlich klarer
Sachverhalte?  Müssen wir die Krise überwinden oder führt
sie ohnedies zu neuen Bedingungen, die besser sind als zuvor?


Wie sieht es mit der sozialen Regulierung von Wissensformen aus,
anders gesagt, was können wir von Seiten der wissensoziologischen
Diskussion lernen? Gibt es so etwas wie illegitimes Wissen? Wie
ist das Verhältnis zwischen Experten/Wissenschaftern und Politik?


Wir gehen dann noch etwas weiter ins 20. Jahrhundert zurück und
kommen (metaphorisch) zu Thomas Kuhns Paradigmenwechsel und
stellen die Frage: Wenn der Schleier gefallen ist, möchte man
wieder in den Nebel zurück?


Was ist von Wissenschaftsskepsis zu halten? Ist dies ein Problem
oder eine große Chance für unsere Gesellschaft?


Aller vermeintlicher Inklusivitätsbemühungen zum Trotz scheint
das Gegenteil zu passieren und wir werden immer
ambiguitätsintolerater. Aus »anything goes« wird »nothing goes«.
Komplexe Menschen, die wichtige Beiträge für unsere Gesellschaft
leisten, können in anderen Aspekte völlig irren, man denke an
Wissenschafter wie Isaac Newton oder Kary Mullis.


Was können wir noch von Ernst von Glasersfeld, und Heinz von
Foerster, den radikaler Konstruktivsten, lernen? Dann kommen wir
auf die Frage, ob die Geisteswissenschaften sich an den
Naturwissenschaften orientieren sollen? Wir vertagen diese Frage
aber auf eine andere Episode.


Wie kommt es eigentlich in der Wissenschaft zur Meinungsbildung,
welche Rolle spielen Epistemic Communities, und was ist von
Gruppenbildung in der Wissenschaft zu halten? Pierre Bourdieu
spricht vom Homo Academicus, Ludwig Fleck von Denkkollektiven.


In welchem Zusammenhang steht das zu den moderneren
Formulierungen wie »Trust the Science« oder gar »Follow the
Science«? Was ist die Triple Helix von Wissenschaft, Wirtschaft
und Politik?


Wie stehen diese Überlegungen zu der Tatsache, dass Fortschritt
nur mit heterodoxem und orthodoxem Denken gemeinsam zu bekommen
ist? Was bedeutet dies für Diversität in Wissenschaft und Eliten
in Theorie und Praxis? Welchen Schaden richtet dabei das heute
überall zu erlebende Pseudo-Qualitätsmanagement an?


»Nicht mehr die Wahrheit hat hier eine Macht, sondern was Macht
über uns hat legitimieren wir theoretisch als das Wahre.«, Hans
Blumenberg


Wie kann es gelingen, Fehlerkultur guter (!) Wissenschaft in die
Politik mitnehmen? Dabei aber gleichzeitig nicht den Fehler von
über-Rationalisierung zu begehen, also Wissenschaft als
rationales Schild für Politik und Management zu missbrauchen?


»Viele Menschen lächeln über altmodische Wahrsager. Doch sobald
die Hellseher mit Computern arbeiten, nehmen wir ihre Vorhersagen
ernst und sind bereit, für sie zu zahlen.«, Gerd Gigerenzer


Dabei stelle ich wieder einmal die fundamentale Frage: wollen
Menschen belogen, oder würde Wahrheit politisch belohnt werden?
Ich glaube zweiteres, aber was ist Jans Meinung?


Zuletzt stellt sich die ernüchternde Frage, ob wir die Dimension
eines großen Umbruches während des Umbruches überhaupt verstehen
kann?


Wer die erste Episode mit Jan noch nicht gehört hat, unbedingt
Nachhören!


Referenzen


Andere Episoden


Episode 80: Wissen, Expertise und Prognose, eine Reflexion

Episode 79: Escape from Model Land, a Conversation with Dr.
Erica Thompson

Episode 74: Apocalype Always

Episode 72: Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft,
Sprache und Gesellschaft — Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

Episode 47: Große Worte

Episode 45: Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?

Episode 39: Follow the Science?

Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann

Episode 37: Probleme und Lösungen

Episode 27: Wicked Problems

Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit



Jan David Zimmermann


Homepage von Jan

Jan David Zimmermann, LETHE. Vom Vergessen des Totalitären,
als vobiscum (2023)

Stichpunkt Magazin

Facebook: Jan D. Zimmermann

Instagram:  j._zimmermann



Fachliche Referenzen


Karl Popper: Das Elend des Historizismus. Mohr Siebeck,
Tübingen 2003, S. XI [Vorwort zur deutschen Ausgabe]

Reason TV, The Truth about Sweden's COVID Policy (2023)

Uwe Pörsken: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen
Diktatur. Klett-Cotta 2011 (ursprünglich erschienen: 1988)

Mai'a K. Davis Cross, Rethinking epistemic communities twenty
years later (2012)

Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer
wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil
und Denkkollektiv, Suhrkamp (1980)

Peter M. Haas, Introduction: Epistemic Communities and
International Policy Coordination, International Organization,
Vol. 46, No. 1, Knowledge, Power, and International
PolicyCoordination (Winter, 1992), pp. 1-35

Hyrum Lewis & Verlan Lewis, The Myth of Left and Right:
How the Political Spectrum Misleads and Harms America, Oxford
University Press (2022)

Mitchell G . Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen
füreinander (2002)

Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie.
Suhrkamp, Frankfurt a.M .1960, S.22.

Gerd Gigerenzer, Risiko – Wie man die richtigen
Entscheidungen trifft, Pantheon (2020)

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