Progressionskorrelate der HIV-Erkrankung bei homosexuellen Männern

Progressionskorrelate der HIV-Erkrankung bei homosexuellen Männern

Beschreibung

vor 22 Jahren
Der unterschiedliche natürliche Verlauf der HIV-Erkrankung mit
Ausprägungen von schnell progredienten bis langjährig
asymptomatischen Fällen ist bis dato nicht ausreichend erklärbar.
Im Lichte der sich in den letzten Jahren mehrenden
wissenschaftlichen Erkenntnisse über bio-psychosoziale
Zusammenhänge in der Medizin, wurde deshalb in dieser Untersuchung
folgende Frage formuliert: Können psychosoziale Aspekte die
Progression der HIV-Erkrankung bei homosexuellen Männern
beeinflussen? Die hierzu vorliegende Literatur bot ein heterogenes
Bild: Bisher waren Korrelationen zwischen psychosozialen Aspekten
und der Progression der HIV-Erkrankung nur vereinzelt beschrieben
worden. Ein auffallendes methodisches Manko der meisten Arbeiten
lag in der Verwendung von unspezifischen Instrumentarien, welche
nicht auf die psychischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten
der untersuchten Population ausgerichtet waren. Hier wurde eine
spezifischere Herangehensweise gewählt. Dazu wurden neben der
systematischen Auswertung von bereits beschriebenen
Progressionsfaktoren, Forschungsarbeiten zu vorherrschenden
psychosozialen Konditionen HIV-infizierter homosexueller Männer
(wie beispielsweise Stigmatisierung, Homophobie und
gesellschaftliche Bedeutungen von AIDS) herangezogen. Insgesamt
konnten hierdurch 16 Themenbereiche postuliert werden, welche in
dieser Arbeit untersucht wurden. Ein retrospektives, exploratives
und somit hypothesengenerierendes Verfahren wurde gewählt. Zwei
Gruppen homosexueller HIV-infizierter Männer in deutlich
verschiedenen Progressionsstadien (Long-Term-Non-Progressoren und
Short-Term-Progressoren) wurden so festgelegt, daß annähernd die
Konstrukte Progression und Nicht-Progression repräsentiert waren.
Ein spezifischer und populationszentrierter Fragebogen wurde
entwickelt und in einer Pilotstudie optimiert. Diesem "Fragebogen
zu individuellen und gesellschaftlichen Aspekten der HIV-Infektion"
(FIGAH), wurden acht zusätzliche, häufig verwendete, meist
standardisierte psycho- und soziometrische Verfahren angeschlossen,
um die 16 zu untersuchenden Themenbereiche zu erfassen. Die
Datenanalyse umfaßte zwei Schritte. Nach einer quantitativen
Auswertung der Fragebögen wurden die ermittelten
Gruppenunterschiede auch einer qualitativen Analyse unterzogen.
Hierbei wurden sozialwissenschaftlich fundierte Verfahren der
Inhaltsanalyse verwendet, welche in einem speziellen hierarchischen
Verfahren, geordnet nach statistischer Relevanz der einzelnen
Gruppenunterschiede, ein konsistentes Gesamtergebnis generieren
sollten. Ziel der Inhaltsanalyse war die Zusammenfassung,
Explikation und Strukturierung der Gruppenunterschiede zu
psychosozialen Typologien. Insgesamt konnten 13
Long-Term-Non-Progressoren und neun Short-Term-Progressoren
rekrutiert werden. 12,5 % der 415 Items des FIGAH und 35,5% der 51
Dimensionen der zusätzlichen Fragebögen zeigten statistisch
sensitive Daten. Hiervon ausgehend ergab die durchgeführte
inhaltsanalytische Auswertung für elf der 16 Themenbereiche
relevante psychosoziale Gruppenunterscheidungen: • Subjektive
Qualität der jetzigen Lebenssituation • Akzeptanz der eigenen
Homosexualität • Strukturierung der homosexuellen Identität nach
außen • Reaktionen auf Stigmatisierung der Homosexualität •
Qualität und Bedeutung schwuler Subkultur • Sexueller Handlungsstil
• Emotionale Bewertung der HIV-Infektion • Offenbarung des
HIV-Befundes und Reaktionen auf Stigmatisierungen • Gesundheits-,
Krankheitskonzepte und Verhalten • Qualität des
Arzt-Patienten-Verhältnisses • Reflexion der öffentlichen Bewertung
von Homosexualität und HIV-Infektion Im Vergleich zu früheren
Befunden waren folgende Feststellungen zu treffen: Einige
Hypothesen zur HIV-Krankheitsprogression konnten untermauert
werden, nämlich 'subjektive Lebensqualität',
'Krankheitsverarbeitung' und 'Akzeptanz der eigenen
Homosexualität'. Die meisten der in dieser Arbeit gefundenen
HIV-Progressionskorrelationen wurden in dieser Form dagegen bisher
noch nicht beschrieben. Hierzu zählten die Themenbereiche der
'homosexuellen Identifizierung', des 'sexuellen Handlungsstiles'
sowie des 'emotionalen Umganges mit der HIV-Infektion'.
Long-Term-Non-Progressoren wiesen im Vergleich zu
Short-Term-Progressoren beispielsweise weniger internalisierte
Homophobie auf, führten weitaus häufiger längerfristige
partnerschaftliche Beziehungen zu Männern oder maßen der
HIV-Infektion einen deutlich weniger wichtigen Stellenwert im
Alltagsleben bei. Aufgrund des retrospektiven,
hypothesengenerierenden und semiqualitativen Studiendesigns wurde
auf gewisse Kautelen in der Beurteilung der Ergebnisse aufmerksam
gemacht. Grundsätzlich sind die ermittelten Ergebnisse als
korrelativ und nicht als kausal-attribuierend zu bewerten. Des
weiteren ist eine gewisse Subjektivität der inhaltsanalytischen
Auswertung zu berücksichtigen. Eine mögliche Beeinflussung der
Resultate durch ein unterschiedlich ausgeprägtes Krankheitsgefühl
bei den einzelnen Untersuchungsteilnehmern kann nicht
ausgeschlossen werden. Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit
liegt bereits einige Jahre zurück. Seither lassen sich wesentliche
Entwicklungen in der gesellschaftlichen und individuellen
Perzeption der HIV-Erkrankung diskutieren. Diese veränderten
Untersuchungsbedingungen hätten die Ergebnisse dieser Arbeit
möglicherweise modifiziert, die Grundthese einer psychosozialen
Beeinflussung der HIV-Krankheitsprogression bliebe aber davon
unabhängig bestehen. Hypothesengenerierend ist das Postulat eines
Zusammenhanges zwischen psychosozialen Aspekten und der Progression
der HIV-Erkrankung bei homosexuellen Männern somit die wichtigste
Schlußfolgerung dieser Studie. Sie liefert ein profundes Argument
für die Richtigkeit und Akzeptanz bio-psycho-sozialer
Medizinmodelle und für die Notwendigkeit weiterer Erforschung.

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