Studio B Klassiker: Philip K. Dick - Flow My Tears, the Policeman Said

Studio B Klassiker: Philip K. Dick - Flow My Tears, the Policeman Said

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Beschreibung

vor 1 Jahr

(1)Fließt, meine Tränen, euren Quellen entspringt!Für immer
verbannt lasst mich klagen.Wo der schwarze Vogel der Nacht seine
Schande besingt,Dort lasst mich mein Unglück tragen.


(2)Aus, eitle Lichter, nicht mehr strahlt!Die Nacht ist nicht
schwarz genug für einen,Der sich das verlorne Glück ausmalt,Wenn
Licht will nur der Schande scheinen.


(3)Nimmer mehr find ich Erleichterung vom Leid,Seit das Mitgefühl
entronnen.Und Tränen, Seufzer, Klagen in schwerer ZeitHaben mir
all meine Freuden genommen.


(4)


Lauscht! Ihr Schatten, die ihr im Dunkeln lauert,Lernt, das Licht
zu verdammen.Seid glücklich, die ihr in der Hölle kauert,Ihr
könnt nicht die Tücke der Welt empfangen.


John Dowland, 1600


“Flow My Tears, the Policeman Said” ist der schönste Buchtitel,
den ich kenne. Am Ende des letzten Jahrhunderts, als es noch
schwieriger war, an amerikanische Bücher im Original zu gelangen,
erwarb ich eine Kopie in einem vollgestopften Buchladen auf dem
Campus der Cornell University, zusammen mit 4 weiteren des
Autoren Philip K. Dick. 


Philip K. Dick stellt die 1., 2., 3. und 5. Strophe des Gedichtes
“Fließt meine Tränen”, die er im Titel um den Zusatz “,the
Policeman Said” ergänzt hat, den 4 Teilen seines Werkes voran. In
der deutschen Übersetzung trägt der Roman den eher schnöden Titel
“Eine andere Welt”, der die Assoziation zu einem anderen
dystopischen Werk hervorruft, Aldous Huxleys “Schöne neue Welt”.
Ein Vergleich der ersten Seiten des Originals mit der deutschen
Übersetzung von Michael Nagula ergab eine sehr hohe
Übereinstimmung, so dass ich im Folgenden die deutsche Ausgabe
bespreche.


1974 veröffentlicht, dem Jahr, in dem Richard Nixon nach der
Watergate-Affäre zurücktrat, hat Philip K. Dick die Handlung
seines Romans “Flow My Tears, the Policeman Said” in der nicht
weit entfernten Zukunft 1988 angelegt. Utopische Romane, deren
einst futuristische Handlung beim Zeitpunkt des Lesens
mittlerweile in der Vergangenheit liegt, laden zum Vergleich mit
der als “wahr” oder “tatsächlich” stattgefundenen Geschichte ein.
Dagegen spricht, dass Science Fiction Romane, sofern sie nicht
nur um imaginierte technische Entwicklungen kreisen,
gesellschaftliche Fragen und ihre inhärente Moral behandeln, die
unabhängig von der Zeit existieren.


Philip K. Dicks “Flow My Tears, the Policeman Said” erzählt in 3
Teilen die Geschichte einiger weniger Protagonisten über den
Zeitraum weniger Tage. Der galaktisch erfolgreiche Jason
Taverner, Sänger und Moderator einer wöchentlichen Variety-Show
mit 30 Millionen Zuschauern wacht nach einer Attacke einer
frustrierten Ex-Geliebten in einem heruntergekommenen Hotelzimmer
auf und muss feststellen, dass er nicht mehr existiert. Nicht nur
sind ihm seine ganzen Ausweisdokumente gestohlen wurden, es kann
sich auch niemand an ihn erinnern, niemand kennt ihn.


Die wenigen Protagonisten des Buches und ihre Begegnungen,
manipulativen Gespräche und Verwicklungen bilden die Hauptteile
der Handlung. Aus Gesprächsfetzen und wenigen dürren Absätzen,
die über das Buch verteilt sind, wird die dystopische
Gesellschaftsvision sichtbar, die Philip K. Dick unter dem
Eindruck der Nixon-Administration schuf.


Nach dem Ende des 2. us-amerikanischen Bürgerkrieges hat sich ein
faschistisches Regime etabliert, in dem die Nationale Garde, kurz
“Nats” und die Polizei, hier “Pols”, eine grenzenlose
Überwachungsmaschinerie erschaffen haben, in der für geringste
“Vergehen” das Leben im Zwangsarbeitslager droht. Die
Universitäten wurden geschlossen, hier fristen
radikal-oppositionelle Studenten in unterirdischen Kibuzzim ein
klägliches Dasein. Der Gebrauch von rekreationalen Drogen ist
üblich. Durch ein rassistisches Sterilisationsgesetz verschwindet
die schwarze Bevölkerung. Ein gesellschaftliches Leben mit
offenen Treffpunkten oder Parks gibt es nicht, Altruismus
existiert nicht. Wenn Menschen etwas austauschen, sind es nur
Kontrolle, Gewalt, Geld oder Sex. Die Beziehungen, die Philip K.
Dick in “Flow My Tears, the Policeman Said” zeichnet sind
missgünstig, voller Streit oder Manipulation. Eine Gesellschaft,
die sich also im permanenten Zustand des menschlichen
Zusammenbruchs befindet, wie sie in John Dowlands Lied “Fließt
meine Tränen” beschrieben wird.


Dabei waren Philip K. Dick Ängste gegenüber Richard Nixon und der
von ihm geführten Institutionen nicht unbegründet. Er
verschleppte nicht nur die Friedensverhandlungen zum Vietnamkrieg
und trug somit für diesen sinnlosen Krieg die Verantwortung, er
unterdrückte brutal revolutionäre Bewegungen und kreierte den
sogenannten War on Drugs. Ein Vertrauter Richard Nixons gab 1994
zu Protokoll: Zitat - "Die Nixon Kampagne 1968 und die folgende
Regierung hatte zwei Feinde: Die linken Kriegsgegner und die
Schwarzen. [...] Wir wussten, dass wir es nicht verbieten
konnten, gegen den Krieg oder schwarz zu sein, aber dadurch, dass
wir die Öffentlichkeit dazu brachten, die Hippies mit Marihuana
und die Schwarzen mit Heroin zu assoziieren und beides heftig
bestraften, konnten wir diese Gruppen diskreditieren. Wir konnten
ihre Anführer verhaften, ihre Wohnungen durchsuchen, ihre
Versammlungen beenden und sie so Abend für Abend in den
Nachrichten verunglimpfen. Wussten wir, dass wir über die Drogen
gelogen haben? Natürlich wussten wir das!" - Zitatende.


Zurück zum Roman: Philip K. Dick setzt Fragen der Identität und
Realität als Hauptthemen seines Romans.


Psychotische Erkrankungen und Drogen, viele Drogen, schaffen hier
eine Vielzahl von Realitäten, die äußerst subjektiv und nicht
allgemeinverbindlich sind. Von der für viele Menschen erlebten
Wirklichkeit in den Zwangsarbeitslagern erfahren wir in “Flow My
Tears, the Policeman Said” nichts außer ihrer Existenz, damit
wird ihr Schrecken verstärkt.


Jason Taverner, der zu einer kleinen Gruppe von Menschen - den
sogenannten “Sechsern” gehört, die durch genetische
Modifizierungen, an einer anderen Stelle wird der Ausdruck
“eugenische Experimente” gebraucht, entstanden sind, und die
deshalb besonders charmant wirken und große Überzeugungskräfte
haben, ist als erfolgreicher Entertainer sehr reich. Damit wird
es ihm ermöglicht, außerhalb des Systems nach Lösungen für sein
Problem zu suchen.


Jason Taverner findet eine Fälscherin, Kathy Nelson, die ihm
zunächst hilft, aber auch als Polizeispitzel arbeitet, weil sie
ihren Mann aus einem Lager herausbekommen will. Diese bezeichnet
ihn als Psychotiker, allerdings wird ihr im Gegenzug selbst eine
Psychose zugeschrieben. Alle Menschen, die Jason Taverner bei
seinen Versuchen trifft, seine Identität zurückzuerhalten, sind
von Drogenmissbrauch oder Unglück gezeichnet. Wenn sie reich
sind, versuchen sie sich Auswege aus ihrer alptraumhaften
Wirklichkeit zu kaufen. Diese Versuche sind nie dauerhaft
erfolgreich.


Zu einem Gegenspieler Jason Taverners entwickelt sich
Polizeigeneral Felix Buckman, der nicht an einen Fehler des
Systems glauben will, als dieser sich nicht im System finden
lässt.


Er wird als ein Mann porträtiert, der sich für Geschichte
interessiert. Es gibt längere Ausflüge in die Musikgeschichte,
beim Nachdenken über sein Leben wird sein Selbstbild so gezeigt:
- Zitat - “Ich bin wie Byron, der um seine Freiheit kämpft, sein
Leben für den Kampf um Griechenland gibt. Nur dass es mir nicht
um die Freiheit geht - sondern ich kämpfe für eine harmonische
Gesellschaft.” Zitatende.


Wenig später führt sein Denken ihn dazu sich einzugestehen, dass
er Ordnung will, Strukturen, Regelungen. Je nach Lesart eine
außerordentliche Denkleistung, Verdrängung oder psychische
Störung: sich selbst in der Rolle eines Freiheitskämpfers zu
romantisieren, dabei aber diametral für ein faschistisches Regime
an leitender Stelle zu arbeiten.


Dabei gibt Philip K. Dick Parallelen zwischen dem Protagonisten
Felix Buckman und Lord Byron, dem englischen Romantiker. Wie
dieser unterhält er ein inzestuöses Verhältnis mit seiner
Schwester. Im Falle Byrons war es eine Halbschwester, bei Felix
Buckman ist es seine Zwillingsschwester Alys, die er gleichzeitig
ob ihres Lebensstils verabscheut, der als unkontrollierbar, frei,
selbstbestimmt und außerhalb der vom Regime vorgegebenen Normen
gesehen werden muss. Natürlich wird ihr diese Freiheit nur
möglich, weil sie die Schwester eines hochrangigen Polizeibeamten
ist.


Philip K. Dick zieht jedoch nicht nur eine biographische
Parallele, sondern gestaltet Felix Buckman als “Byronic Hero”,
einen literarischen Archetypen, der - hier sei mir ein
Wikipedia-Zitat gestattet - “sich die Leidenschaft der
romantischen Künstlerpersönlichkeit mit dem Egoismus eines auf
sich selbst fixierten Einzelgängers verbindet.” Zitatende.


Die ausführlichen Beschreibungen des Kunstverständnisses von
Felix Buckman können als Bearbeitung der Stilisierung des
Naziregimes gelesen werden, die ihre eigenen Gräueltaten mit dem
Verweis auf Goethe und Schiller abwehrten, diese
“Entschuldigungen” wohnt sicher auch anderen Diktaturen und ihren
Erinnerungskulturen inne. Felix Buckmans traumatisches Erlebnis,
dass seine Tränen fließen lässt und seine Welt zerstört ist der
Tod seiner Schwester, den Jason Taverner beobachtet, weil sie ihn
nach seiner Entlassung nach der Befragung mit nach Hause genommen
hat.


Davor haben sie gemeinsam Drogen genommen. Und als er später mit
einer gewissen Mary Ann Dominic Zeit verbringt, die er vor dem
Haus der Buckmans getroffen und gezwungen hatte ihn zu einem
Krankenhaus zu fahren, stellt er folgende Frage: “Vielleicht
existiere ich nur, solange ich die Droge nehme.” Drogen und
Paranoia sind wiederkehrende Motive, die Philip K. Dick auch im
realen Leben stark beeinflussten. So war er eine Zeit lang
überzeugt, eine Passage im Buch aus der Bibel nacherzählt zu
haben, ohne diese je vorher gelesen zu haben. Einen Einbruch in
seiner Wohnung interpretierte er als Versuch des FBI, sein
Manuskript zu stehlen, dass er aber bei einem Anwalt sicher
hinterlegt hatte. Doch zurück zum Roman:


Felix Buckman, byronischer Held der er ist, versucht nach dem Tod
seiner Schwester politisches Kapital zu schlagen, in dem er
diesen seinen Feinden anhängt, von denen er befürchtet, sie
könnten wiederum ihm schaden, wenn sie sein mit den öffentlichen
Normen nicht konformes inzestuöses Verhältnis mit seiner
Schwester öffentlich machen. Zynisch und blind für sein eigenes
Tun sagt er: “Es gibt Schönheit, die nie verloren gehen wird. Ich
werde sie bewahren, ich gehöre zu denen, die sie ehren. Und daran
festhalten. Letztlich zählt nichts anderes.”


Im 4. Teil beschreibt Philip K. Dick in einem Epilog, was mit den
Protagonisten in ihrem weiteren Leben geschah. “Flow My Tears,
the Policeman Said” hätte dieses abschließenden Epilogs nicht
bedurft.


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