David Graeber, David Wengrow - Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit

David Graeber, David Wengrow - Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit

12 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Monaten

Entgegen recht verbreiteter Ansichten - damals wie heute - waren
Wissenschaftler und ihre Methoden in den Universitäten rechts und
links des Eisernen Vorhangs nicht so unterschiedlich, wie man
denkt. Ein Baum ist ein Baum ist ein Kernreaktor ist ein Plato
und so studierten Förster, Physiker, ja sogar Philosophen,
durchaus die gleichen Sachen. Sie kamen dabei auf
unterschiedliche Ergebnisse, was in der Natur der Wissenschaft
und der Weltansichten liegt, aber all das hatte Grenzen; man kann
ein Atom nur auf ein paar Art und Weisen spalten und wenn man
hinterher darüber berichten möchte, sollte man bei den
Berechnungen nur in engen Grenzen auf die Ideologen um einen
herum hören.


Es gab natürlich eine Ausnahme: Studierte man
Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics oder
der University of Chicago stritt man sich, sicher, und sicher
auch heftig, wie das im Fachgebiet wohl üblich ist, und ward
dennoch als “Wirtschaftswissenschaftler” akzeptiert. Studierte
man das Gleiche jedoch an der Frankfurter Uni, also, Frankfurt an
der Oder, war man ein “Ökonom” und eine rote Socke und hätte sich
das aus heutiger Sicht eigentlich sparen können.


Das alles ist weitgehend vergessen. “Wirtschaftswissenschaftler”
(also die aus dem Westen) sind immer noch angesehene Akademiker.
Keine Nachrichtensendung kommt ohne Zahlen und Prognosen aus der
Wirtschaft aus. Wirtschaftsweise machen darin Aussagen zum
Wachstum derselben, Institute für “Weltwirtschaft”,
“Wirtschaftsförderung” oder einfach nur “Wirtschaft” selbst,
sehen jedes Frühjahr einen Stimmungsaufschwung von bis hinters
Komma festgelegten Prozenten. Diese werden in
Nachrichtensendungen verkündet, sie begründen Hoffnungen und
Sorgen “in der Wirtschaft” und Dax-Vorstände, Politiker und
Kommentatoren werden ganz emotional dabei. Im Herbst dann wird
berichtet, in derselben Nachrichtensendung, von denselben Weisen,
Instituten und Komitees, dass sich Prognosen und Stimmungen
verändert haben, ach was, und aus IxKommaYpsilon Prozent, Anteil
und Betrag werden derer völlig andere IxKommaYpsilons! Wie geht?!
Geht!


Und niemand, wirklich keiner, nie einer (es sind meist Männer),
in einer solchen Nachrichtensendung hat sich je gefragt, ob sie
denn wirklich Experten seien, wenn sie ihre Zahlen von vor sechs
Monaten doch gerade wieder korrigieren mussten, dass diese Zahlen
nie ohne Beiworte wie "entgegen den Erwartungen", und
"überraschend" oder gar “schockierend” erzählt werden. Nie kommt
in diesen Sendungen zur Sprache, was unzählige Brücken bauende
Ingenieure, Hochhaus-Statiker, Groß- und Kleintierversorgende
Veterinärmediziner oder Seen- und landschaftspflegende
Berufsausübende, lauter als leise, auf der anderen Seite der
Glotze flüstern und schreien: “Wenn wir einen solchen Unsinn,
ungenauen Blödsinn und reinen Aberglauben produzieren würden,
wäret ihr unter Euren Häusern und Brücken, samt Euren Nutztieren
und -pflanzen begraben und zusammen mit dem ganzen verdammte
Planeten schon lange tot!!1!”


Wie kommt es, dass wochentags, direkt vor der
Hauptnachrichtensendung des Ersten Deutschen Fernsehens, beste
Sendezeit also, fünf Minuten einem Thema, der Börse, gewidmet
werden, welches für das Einkommen von 99 % der Zuschauer genauso
relevant ist, wie die Sendungen zur gleichen Zeit am Wochenende,
die sich um die Lottozahlen kümmern? (und deren Zahlen unter
notarieller Aufsicht so genau und richtig sind, wie es sich die
Reporterin in “Börse vor Acht” nur erträumen kann)? Warum gibt es
mehrseitige Wirtschaftsteile in baumvernichtenden Zeitungen, nur
damit ein paar Promille der Bevölkerung in einem Lufthansaflug
zwischen Frankfurt und Düsseldorf mit diesen der Sekretärin im
Sichtfeld rumfuchteln können? Ein Wahnsinn.


Wenn man sich um diesen Wahnsinn nicht kümmern möchte, kann man
sich natürlich mit anderen Sachen beschäftigen, es gibt ja noch
andere Wissenschaften, die einem den Tag vertreiben. Medizin zum
Beispiel oder Biologie. Neue, epochale Medikamente werden da
erfunden in Dänemark. Doch was wir lesen ist, dass das dänische
Bruttosozialprodukt um 0,4 % gestiegen ist, weil eine
Medizinfirma ein Abnehmmittel erfand. Das lesen wir als erstes.
Wir lesen nicht, wie es funktioniert, für wen es hilfreich ist.
Die Nachrichten verkünden, dass das Zeug viel zu teuer für die
Krankenkassen sei. Wir lesen nicht über die Menschen, denen es
hilft. Und vom Fakt, dass es millionenweise Übergewichtigen
gelingt mit Hilfe der Droge von Ihrer Fresssucht loszukommen
bleibt in den Webspalten übrig, dass das der Supermarktkette
Walmart den Börsenkurs versaut.


Ok, das war nix, schauen wir.. wohin mal schnell? Ok,
Insektenforschung, Entomologie, wenn man schlau klingen will. Was
wird entdeckt, was verschwindet, wie fickt die Biene?! Immer
weniger, lernen wir und das bedeutet Ernteausfall, Dürre und
damit der Niedergang ganzer Wirtschaftszweige. Ok, zeig mir
irgendwas anderes als Wirtschaft, Frau Google! Wir blättern und
wischen verzweifelt: Modeseiten berichten von Werbung auf Tiktok,
Literaturbeilagen berichten von Verlagen gegen Amazon,
Musikmagazine vergleichen Spotify und Apple Music. Es geht immer
nur um Wirtschaft. Wohin fliehen?


In die Geschichte! Das ist die Lösung! Den Kapitalismus gibt’s
seit drei-, vierhundert Jahren, lesen wir also über das
Mittelalter - Problem gelöst. Gehen wir kein Risiko ein: Gehen
wir an den Anfang der Menschheit zurück, nehmen wir uns ein
dickes Buch, was die Story von Beginn an erzählt, als wir alle
nackig waren und noch keine Wirtschaft war!


“Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit” heißt dieses Buch
auf Deutsch, erschienen ist es im Januar 2022 und es ist so dick
und reich und anregend, dass ich immer noch drin lese. “The Dawn
of Everything: A New History of Humanity", so haben es im
Original die Autoren genannt. Diese sind der brillante,
originelle, witzige und leider viel zu früh verstorbene David
Graeber, ein Anthropologist und sein Kollege aus dem Fach
Archäologie: David Wengrow.


Die Autoren erklären zunächst, warum sie eine neue Geschichte der
Menschheit schreiben und die Erklärung ist so einleuchtend, wie
sie für mich überraschend war. Sie geht so: Die
Geschichtsschreibung, die wir heute in der westlichen Welt lernen
und lesen, ist in den größten Teilen nicht älter als 100-200
Jahre. Auch ist sie erstaunlich ähnlich, egal ob man sie in den
letzten 70 Jahren links oder rechts vom eisernen Vorhang gelehrt
bekommen hat. Ok, die Prognose wer am Ende gewinnen wird, war
leicht unterschiedlich, aber die Stories die erzählt wurden, von
der Frühzeit bis zum unweigerlichen Sieg der kommunistischen oder
eben marktwirtschaftlichen “Freiheit” ähnelten sich doch sehr.
Das liegt daran, dass in den letzten paar hundert Jahren die Welt
im Westen (zu dem wir hier auch den Osten Europas zählen)
materialistische und paternalistische Grundideologien hatte, und
genauso materialistisch und paternalistisch wurde jede Quelle,
jede Ausgrabung, jedes Mosaik und jedes gefundenen Höhlenbild
interpretiert und in die eigene Weltsicht eingepasst. Damit
zementierte man diese Weltsicht und verhinderte eine andere und
das behindert nicht nur das Sehen eines vielschichtigen und am
Ende wahrscheinlichen Bildes der Geschichte der Menschheit, es
verhindert auch die Sicht auf eine vielfältige und offene Zukunft
ebendieser.


Das macht Wengrow und vor allem den selbsternannten Anarchisten
Graeber äußerst wütend. Man könnte von Wissenschaftlern erwarten,
dass sie in Werken, in denen sie andere solche kritisieren, für
diese ein gewisses Verständnis aufbringen, für deren Umstände, in
denen Theorien und Werke entstanden, man selbst kann als
Wissenschafter ja unmöglich fehlerfrei sein. Nicht so die beiden
Davids, sie ziehen vom Leder, es ist eine Freude. Das macht das
Buch wohltuend zu lesen für den Laien, der sich auf ihrer
politischen Seite wähnt (also idealistische Feministen wie mich).
Die andere Seite, die alten Bewahrer der Welt (m), die ihre
Reputation zerstört sehen durch die +600 Seiten an alternativen
Interpretationen, alternativen Theorien, alternativen Blicken auf
die gleichen Quellen, Ausgrabungen und Zeitzeugen, diese gehen
sicher hart ins Gericht mit dem Buch. Ich bin auch diesmal meiner
Regel treu geblieben, keine Rezensionen zu Werken zu lesen, bevor
die meine nicht veröffentlicht ist. Aber das Buch ist so voll von
Kritik am bestehenden materialisitisch-patriarchalen
Geschichtsbild, dass die Bingokarte recht schnell voll ist mit
garantiert in Rezensionen auftauchenden Worten: “woke”, “social
justice” oder “feminist history” werden dabei sein. Ich hole
schon mal den Bingostempel.


Nun stehe ich der Geschichtswissenschaft mit einer gewissen
Grundskepsis gegenüber, die man früher äußern konnte, ohne in den
Verdacht des Schwurbler- und Querdenkertums zu geraten. Sie ist
in vielem unberechtigt, aber so tief verwurzelt, dass ich sie
schwer los werde. In der DDR in die Schule gegangen, in der die
Weltläufte nicht immer allzu zusammenhängend übermittelt wurden,
bekam ich ein paar Jahre später die Stasi-Akten meiner Familie
auf den Tisch, also Quellen aus allererster Hand, deren Inhalt
wir als direkte Zeitzeuge auf Richtigkeit überprüfen konnten. Wir
haben selten so gelacht. So viel war falsch, ja lächerlich.
Anderen ging es ähnlich, so zwischen drei und fünf Millionen
Menschen, schätzt man, hatten ähnliche Erfahrungen und haben
dennoch jeden Scheiß geglaubt, den sich der Spiegel über, sagen
wir: Manfred Stolpe, aus dessen Stasiakten zusammenreimte. Aus
solchen Artikeln wurden irgendwann Bücher und diese werden
aktuell und in Zukunft in Schulen gelehrt. Was dabei in künftigen
Generationenköpfen entsteht, werden Geschichten sein, aber nicht
“die Geschichte”. Extrapoliert man diese minimale Episode an
“falscher Geschichte” hoch bis in die Prähistorie, bleibt einfach
nicht viel übrig, von dem, was wir über uns zu wissen meinen. Das
Thema sprechen David Graeber und David Wengrow an, sie erläutern
ihre Meinung dazu (eine andere als die meine, logisch, es ist ihr
Job) und können aber natürlich ihre neue Geschichte nicht ohne
die Worte “könnte”, “hätte” oder “wäre” schreiben. Sie weisen,
wie es sich gehört, darauf hin, dass alles auch ganz anders
gewesen sein könnte, aber was geschrieben ist, erhält
deklaratorischen Wert, der einschränkende Halbsatz ist schnell
vergessen.


So berichten Graeber und Wengrow von neuen Erkenntnissen in der
Archäologie: diese entstehen nicht nur durch den technischen
Fortschritt in Altersbestimmung, Radiologie oder
DNA-Sequenzierung sondern auch, weil das Feld nicht mehr nur von
schnauzbärtigen Männern mit Hüten betrieben wird sondern von
Frauen oder Wissenschaftlern, die nicht unbedingt dem Okzident
entstammen. Wenn diese auf ihre Entdeckungen schauen, tun sie das
nicht mehr durch die koloniale Brille von Eroberung und
Ressourcenextraktion. Wir erfahren von nordamerikanischen Tribes,
die in fast gleichen Lebensräumen völlig unterschiedliche Arten
des Zusammenlebens praktizierten. Es gab natürlich die expansiven
Apache und Comanche, parallel aber eben zu Tribes die sich am
Ende der Ernte zum potlatch trafen und diese gerecht verteilten.
Über erstere schreiben sich die besseren Stories, wenn man die
Jugend mit der eigenen raubmordenden Kolonialisierung versöhnen
möchte, für eine Welt, die noch ein paar hundert Jahre halten
soll, sind die Berichte von kommunalen Praktiken der Tlingit,
Haida oder der Chinook wichtiger - und dass der Leser von diesen
drei wahrscheinlich nur eine kennt, sagt alles über den Zustand
unserer Welt.


Wir erfahren, in einer der für mich interessantesten Aspekten der
modernen Anthropologie, dass auch unser zeitlicher Blick auf
gesellschaftliche Entwicklungen beengt zu sein scheint.
Gesellschaftliche Strukturen sehen wir aus moderner Sicht in
Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Viel wichtiger, ja, ist
auf einmal logisch, sind Jahreszeiten. Wir lernen über, Bingo,
Amazonastribes, die in der Trockenzeit in streng hierarchischen
Gruppen jagen, mit brutalen Führern und unterdrücktem Fussvolk.
In der Regenzeit sind diese Führer dann ganz normale Mitglieder
der Gemeinde und führen ohne jeden Ansehensverlust die “niederen”
Tätigkeiten aus, die dann nötig sind. Und nun stellen wir uns
Friedrich Merz vor, wie er bei Netto an der Kasse sitzt.


Man sollte nicht erwarten, am Ende des Buches die “richtige” und
“wahre” Geschichte der Menschheit zu kennen. Speziell der
unermüdlich progressive und nochmal etwas politischere der beiden
Davids, nämlich David Graeber, hat dieses, sein letztes Buch,
wohl auch als Zukunfts- denn als Geschichtsbuch geschrieben. Denn
wenn man die scheinbare Vorherbestimmtheit unserer aktuellen
materialistischen Money-Money-Welt nicht hinnehmen will, reicht
es nicht, den Leuten zu erzählen, dass alles, was sie über diese
Welt wissen, aus dieser Weltsicht heraus vermittelt wurde. Man
muss ihnen die alternativen Geschichten und deren Quellen
aufzeigen. Und das passiert auf ganz wunderbare, verständliche
und ausführliche Art und Weise in diesem Buch. Es liest sich wie
der spannendste Geschichtsunterricht, den man nie hatte, es
fliegt mit Dir durch die Zeiten und über Kontinente. Das Buch ist
ein Almanach und ein Kneipenquizlexikon und am Ende hast Du das
seltsam gleichzeitige Gefühl mehr zu wissen und viel weniger.
Denn Dir ist die Gewissheit abhanden gekommen zu wissen, woher
wir kommen und damit die, dass alles so kommen wird, wie Dir
jeden Tag in “Börse vor Acht” erzählt wird. Oder wie es David
Graeber 2015 in einem anderen Buch mit seinem Wohl bekanntesten
Zitat zusammenfasste:


“Die ultimative, geheimste Wahrheit unserer Welt ist, dass sie
etwas ist, das wir erschaffen, und genauso gut anders erschaffen
können.”


Damit wir das nicht vergessen, sollten wir dieses Buch lesen.


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