Du stirbst meinen Tod: Was der Karfreitag unserer Sterblichkeit sagt

Du stirbst meinen Tod: Was der Karfreitag unserer Sterblichkeit sagt

24 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Der Münchner Hauptbahnhof an einem sonnigen Märztag. Wieder
kommen in Zügen Flüchtlinge aus der Ukraine an. Ältere Menschen,
viele Frauen und Kinder. Etliche mit so wenig Gepäck, dass ich
mich schaudernd frage, unter welchen Umständen sie wohl ihre
Heimat verlassen haben.


Je mehr Nachrichten und Bilder uns erreichen, umso drängender
stellt sich die Frage, wie wir mit einer solchen Flut umgehen. Es
ist legitim und notwendig zu entscheiden, was ich an mich
heranlasse und was nicht; wie viel Raum und Macht ich welchen
Bildern und welchen Bildermachern gebe. Wir können nicht jede Not
anschauen, die uns gezeigt wird. Wenn wir die eine anschauen,
müssen wir von einer anderen absehen. Nicht alle Not auf der Welt
kann uns angehen. Wir sind nicht Gott. Uns geht die Not an, die
uns ändern soll oder die wir ändern können.


Das war auch am Anfang des Krieges so. Mittlerweile aber ist die
Not, die wir zuerst nur aus den Nachrichten kannten, längst zu
uns gekommen. Und je näher uns die Not von Menschen kommt, umso
weniger dürfen wir wegsehen. Ich werde nicht allen Menschen
helfen können. Aber ob und wie ich für einen Menschen da sein
kann, werde ich erst merken, wenn ich ihn ansehe.


Heute ist Karfreitag. Auch der handelt vom Ansehen der Not. Vor
14 Tagen wurden in den katholischen Kirchen die Kreuze verhüllt.
Das ist jedes Jahr ein ungewohnter Anblick. Eine Entwöhnung. Wir
sollen uns an das Bild des zu Tode gefolterten Mannes nicht
gewöhnen, den die Christen als „wahrer Gott und wahrer Mensch“
verehren.


Heute Nachmittag begeht die Kirche die sogenannte „Feier vom
Leiden und Sterben Christi“. In diesem Gottesdienst wird an die
Passion Jesu erinnert. Dabei wird das Kreuz wieder feierlich
enthüllt. Es ist eine Art Sehschule. Wir sollen wieder sehen
lernen, was wir übersehen, woran wir uns gewöhnt oder was wir
verdrängt haben.


Während des katholischen Karfreitagsgottesdienstes wird der
Gemeinde dreimal zugerufen, nicht länger wegzusehen: Ecce! Lautet
der lateinische Ruf. Das heißt so viel wie: Da! Sieh hin! Gib
acht!


Der bekannteste dieser drei Weckrufe steht im Evangelium nach
Johannes: Ecce homo! – Siehe, der Mensch!“ Dieses Wort hat eine
bemerkenswerte Karriere gemacht. Es gibt eine ganzes Genre von
Bildern mit diesem Titel. Napoleon wird das Wort in den Mund
gelegt als er 1808 Goethe begegnet. Friedrich Nietzsche hat eine
biografische Schrift gleichen Namens verfasst. Und Hilde Domin
hat uns ein Gedicht hinterlassen, das mit diesem Wort
überschrieben ist.


Es stammt vom römischen Statthalter in Jerusalem, Pontius
Pilatus. Bei ihm wird Jesus wegen Gotteslästerung und
Aufwiegelung angeklagt. Während des Verfahrens wird Jesus
gegeißelt und als Witzkönig verkleidet und verspottet. Mit einer
Krone aus Dornen, einem Rohrstock als Zepter und einem alten
Soldatenmantel um die Schultern. Als er so vor das Volk geführt
wird, sagt Pontius Pilatus: Ecce Homo! Siehe, der Mensch!


Vielleicht hat der Statthalter Roms nur auf diesen einen Menschen
zeigen wollen. Als wolle er sagen: „Schaut euch diesen Menschen
an!“ Aber dabei hat er zugleich noch mehr gesagt. Er zeigt auf
Jesus und damit auf den Menschen schlechthin: Seht hin! Das ist
der Mensch! So ist der Mensch! So geht der Mensch mit dem
Menschen um. Damit steht das Wort des Pilatus aber nicht nur über
dieser Szene, sondern über der ganzen Leidensgeschichte Jesu. Ja,
über seinem ganzen Leben.


(Der vollständige Text wird kurzfristig auf der BetDenkzettel
Website ergänzt.)


(Diese Folge wurde am 15. April 2022 im Deutschlandfunk
ausgestrahlt:
https://www.xn--katholische-hrfunkarbeit-xoc.de/?id=4019)

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