Dynamische Benetzung

Dynamische Benetzung

Modellansatz 242
1 Stunde 6 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Jahren

Gudrun spricht in dieser Folge mit Mathis Fricke von der TU
Darmstadt über Dynamische Benetzungsphänomene. Er hat 2020 in der
Gruppe Mathematical Modeling and Analysis bei Prof. Dieter Bothe
promoviert. Diese Gruppe ist in der Analysis und damit in der
Fakultät für Mathematik angesiedelt, arbeitet aber stark
interdisziplinär vernetzt, weil dort Probleme aus der
Verfahrenstechnik modelliert und simuliert werden.


Viele Anwendungen in den Ingenieurwissenschaften erfordern ein
tiefes Verständnis der physikalischen Vorgänge in mehrphasigen
Strömungen, d.h. Strömungen mit mehreren Komponenten. Eine sog.
"Kontaktlinie" entsteht, wenn drei thermodynamische Phasen
zusammenkommen und ein komplexes System bilden. Ein typisches
Beispiel ist ein Flüssigkeitströpfchen, das auf einer Wand sitzt
(oder sich bewegt) und von der Umgebungsluft umgeben ist. Ein
wichtiger physikalischer Parameter ist dabei der "Kontaktwinkel"
zwischen der Gas/Flüssig-Grenzfläche und der festen Oberfläche.
Ist der Kontaktwinkel klein ist die Oberfläche hydrophil (also
gut benetzend), ist der Kontaktwinkel groß ist die Oberläche
hydrophob (schlecht benetzend). Je nach Anwendungsfall können
beide Situationen in der Praxis gewollt sein. Zum Beispiel können
stark hydrophobe Oberflächen einen Selbstreinigungseffekt
aufweisen weil Wassertropfen von der Oberfläche abrollen und
dabei Schmutzpartikel abtransportieren (siehe z.B.
https://de.wikipedia.org/wiki/Lotoseffekt).


Dynamische Benetzungsphänomene sind in Natur und Technik
allgegenwärtig. Die Beine eines Wasserläufers nutzen eine
ausgeklügelte hierarchische Oberflächenstruktur, um
Superhydrophobie zu erreichen und das Insekt auf einer
Wasseroberfläche leicht stehen und laufen zu lassen. Die
Fähigkeit, dynamische Benetzungsprozesse zu verstehen und zu
steuern, ist entscheidend für eine Vielzahl industrieller und
technischer Prozesse wie Bioprinting und Tintenstrahldruck oder
Massentransport in Mikrofluidikgeräten. Andererseits birgt das
Problem der beweglichen Kontaktlinie selbst in einer stark
vereinfachten Formulierung immer noch erhebliche
Herausforderungen hinsichtlich der fundamentalen mathematischen
Modellierung sowie der numerischen Methoden.


Ein übliche Ansatz zur Beschreibung eines Mehrphasensystems auf
einer makroskopischen Skala ist die Kontinuumsphysik, bei der die
mikroskopische Struktur der Materie nicht explizit aufgelöst
wird. Andererseits finden die physikalischen Prozesse an der
Kontaktlinie auf einer sehr kleinen Längenskala statt. Man muss
daher das Standardmodell der Kontinuumsphysik erweitern, um zu
einer korrekten Beschreibung des Systems zu gelangen. Ein
wichtiges Leitprinzip bei der mathematischen Modellierung ist
dabei der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass
die Entropie eines isolierten Systems niemals abnimmt. Dieses
tiefe physikalische Prinzip hilft, zu einem geschlossenen und
zuverlässigen Modell zu kommen.


Die größte Herausforderung in der kontinuumsmechanischen
Modellierung von dynamischen Benetzungsprozessen ist die
Formulierung der Randbedingungen für die Navier Stokes
Gleichungen an der Festkörperoberfläche sowie am freien Rand
zwischen Gas und Flüssigkeit. Die klassische Arbeit von Huh und
Scriven hat gezeigt, dass die übliche Haftbedingung ("no slip")
an der Festkörperoberfläche nicht mit einer bewegten Kontaktlinie
und damit mit einem dynamischen Benetzungsprozess verträglich
ist. Man kann nämlich leicht zeigen, dass die Lösung für die
Geschwindigkeit in diesem Fall unstetig an der Kontaktlinie wäre.
Weil das Fluid (z.B. Wasser) aber eine innere Reibung
(Viskosität) besitzt, würde dann mit einer unendlichen Rate
("singulär") innere Energie in Wärme umgewandelt ("dissipiert").
Dieses Verhalten ist offensichtlich unphysikalisch und zeigt dass
eine Anpassung des Modells nötig ist. Einer der wesentlichen
Beiträge von Mathis Dissertation ist die qualitative Analyse von
solchen angepassten Modellen (zur Vermeidung der unphysikalischen
Singularität) mit Methoden aus der Geometrie. Die Idee ist
hierbei eine systematische Untersuchung der "Kinematik", d.h. der
Geometrie der Bewegung der Kontaktlinie und des Kontaktwinkels.
Nimmt man das transportierende Geschwindigkeitsfeld als gegeben
an, so kann man einen fundamentalen geometrischen Zusammenhang
zwischen der Änderungsrate des Kontaktwinkels und der Struktur
des Geschwindigkeitsfeldes herleiten. Dieser geometrische (bzw.
kinematische) Zusammenhang gilt universell für alle Modelle (in
der betrachteten Modellklasse) und erlaubt tiefe Einsichten in
das qualitative Verhalten von Lösungen.


Neben der mathematischen Modellierung braucht man auch numerische
Werkzeuge und Algorithmen zur Lösung der resultierenden
partiellen Differentialgleichungen, die typischerweise eine
Variante der bekannten Navier-Stokes-Gleichungen sind. Diese
nichtlinearen PDE-Modelle erfordern eine sorgfältige Auswahl der
numerischen Methoden und einen hohen Rechenaufwand. Mathis
entschied sich für numerische Methoden auf der Grundlage der
geometrischen VOF (Volume-of-Fluid) Methode. Die VOF Methode ist
eine Finite Volumen Methode und basiert auf einem diskreten
Gitter von würfelförmigen Kontrollvolumen auf dem die Lösung des
PDE Systems angenähert wird. Wichtig ist hier insbesondere die
Verfolgung der räumlichen Position der freien Grenzfläche und der
Kontaktlinie. In der VOF Methode wird dazu für jede Gitterzelle
gespeichert zu welchem Anteil sie mit Flüssigkeit bzw. Gas
gefüllt ist. Aus dieser Information kann später die Form der
freien Grenzfläche rekonstruiert werden. Im Rahmen von Mathis
Dissertation wurden diese Rekonstruktionsverfahren hinsichtlich
Ihrer Genauigkeit nahe der Kontaktlinie weiterentwickelt.


Zusammen mit komplementären numerischen Methoden sowie
Experimenten im Sonderforschungsbereich 1194 können die Methoden
in realistischen Testfällen validiert werden. Mathis hat sich in
seiner Arbeit vor allem mit der Dynamik des Anstiegs einer
Flüssigkeitssäule in einer Kapillare sowie der Aufbruchdynamik
von Flüssigkeitsbrücken (sog. "Kapillarbrücken") auf
strukturierten Oberflächen beschäftigt. Die Simulation kann hier
als eine numerische "Lupe" dienen und Phänomene sichtbar machen
die, z.B wegen einer limitierten zeitlichen Auflösung, im
Experiment nur schwer sichtbar gemacht werden können.
Gleichzeitig werden die experimentellen Daten genutzt um die
Korrektheit des Modells und des numerischen Verfahrens zu
überprüfen.



Literatur und weiterführende Informationen

Fricke, M.: Mathematical modeling and Volume-of-Fluid based
simulation of dynamic wetting Promotionsschrift (2021).

de Gennes, P., Brochard-Wyart, F., Quere, D.: Capillarity
and Wetting Phenomena, Springer (2004).

Fricke, M., Köhne, M., Bothe, D.: A kinematic evolution
equation for the dynamic contact angle and some consequences.
Physica D: Nonlinear Phenomena, 394, 26–43 (2019) (siehe auch
arXiv).

Fricke, M., Bothe, D.: Boundary conditions for dynamic
wetting – A mathematical analysis. The European Physical
Journal Special Topics,



229(10), 1849–1865 (2020).


Gründing, D., Smuda, M., Antritter, T., Fricke, M.,
Rettenmaier, D., Kummer, F., Stephan, P., Marschall, H., Bothe,
D.: A comparative study of transient capillary rise using
direct numerical simulations, Applied Mathematical Modelling
(2020)

Fricke, M., Marić, T. and Bothe, D.: Contact line advection
using the geometrical Volume-of-Fluid method, Journal of
Computational Physics (2020) (siehe auch arXiv)

Hartmann, M., Fricke, M., Weimar, L., Gründing, D., Marić,
T., Bothe, D., Hardt, S.: Breakup dynamics of Capillary Bridges
on Hydrophobic Stripes, International Journal of Multiphase
Flow (2021)

Fricke, M., Köhne, M. and Bothe, D.: On the kinematics of
contact line motion, Proceedings in Applied Mathematics and
Mechanics (2018)

Fricke, M., Marić, T. and Bothe, D.: Contact line advection
using the Level Set method, Proceedings in Applied Mathematics
and Mechanics (2019)

Huh, C. and Scriven, L.E: Hydrodynamic model of steady
movement of a solid/liquid/fluid contact line, Journal of
Colloid and Interface Science (1971)

Bothe, D., Dreyer, W.: Continuum thermodynamics of
chemically reacting fluid mixtures. Acta Mechanica, 226(6),
1757–1805. (2015).

Bothe, D., Prüss, J.: On the Interface Formation Model for
Dynamic Triple Lines. In H. Amann, Y. Giga, H. Kozono, H.
Okamoto, & M. Yamazaki (Eds.), Recent Developments of
Mathematical Fluid Mechanics (pp. 25–47). Springer (2016).





Podcasts

Sachgeschichte: Wie läuft der Wasserläufer übers Wasser?

G. Thäter, S. Claus: Zweiphasenströmungen, Gespräch im
Modellansatz Podcast, Folge 164, Fakultät für Mathematik,
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2018

M. Steinhauer: Reguläre Strömungen, Gespräch mit G. Thäter
im Modellansatz Podcast, Folge 113, Fakultät für Mathematik,
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2016


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