Beschreibung

vor 3 Jahren

Die Erkenntnis in der Freimaurerei


Was ist Erkenntnis? Und was ist Erkenntnis in der Freimaurerei?
Diesen fragen will ich mich auf diesem Spaziergang widmen, wohl
wissend, dass es nur einer von sehr vielen Spaziergängen ist, die
man zur Bearbeitung und Beantwortung dieser Fragestellungen
unternehmen kann. Und doch, da jeder dieser Spaziergänge schön
ist auf seine Weise, will ich Sie gerne einladen dazu, mich ein
Stück weit zu begleiten.


***


Gehen wir zunächst von dem Begriff der Erkenntnis aus. Die erste
Verwirrung beginnt bereits dort, wo wir verschiedene Dinge als
Erkenntnis bezeichnen. Da ist der wissenschaftliche Begriff der
Erkenntnis, der in der fundamentalsten aller akademischen
Disziplinen, der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, seine
Bestimmung im Sinne einer unumstößlichen, systematisch und
methodisch erzeugten Evidenz mit definiertem Geltungsbereich
findet. Am anderen Ende des Spektrums gibt es die Erkenntnis,
meist glaubensgebunden, in einem spirituellen Sinn, als eine Art
Einsicht durch Anschauung in einem contemplativen Moment oder
Prozess. Und es gibt das Erkennen in der Alltagssprache
kontextabhängig synonym zu Wahrnehmung oder dem Verstehen.


Übergreifend lässt sich festhalten, dass Erkenntnis immer mit dem
Eindruck einhergeht, dass etwas verstanden, begriffen oder
eingesehen wurde. Ob dem tatsächlich so ist, ist mit dem
Aufkommen dieses Eindrucks nicht geklärt. Erkenntnis ist also
immer und regelhaft ein subjektiv empfundener Zustand, der unter
gewissen Umständen, die sich erforschen und beschreiben lassen,
intersubjektiv oder objektiv Bestätigung finden kann.


***


In der Freimaurerei, wie im gesamten menschlichen Leben, spielt
die Erkenntnis in vielerlei Hinsicht eine grundlegende Rolle. So
umfassen unsere Rituale eine ausgeprägte Lichtsymbolik. Seine
Auseinandersetzung mit ihr davon ausgehend zu beginnen, dass das
Licht für Erkenntnis steht, erscheint sinnvoll. Die Tempelarbeit,
unsere Vereinigung im Ritual, findet häufig in einem physischen
Raum, den wir Tempel nennen und über dessen Pforten nicht selten
wie über dem Eingang zum Tempel von Delphi die Worte "erkenne
dich selbst" zu lesen sind, statt. Das Erkennen ist dem
Freimaurer also gar ein Imperativ. Und in seinem symbolischen
Fortschreiten als Lehrling, Geselle und Meister werden dabei auch
seine Blickrichtungen orientierend gelenkt. "Schaue in dich",
"schaue um dich" und "schaue über dich" wird bestimmend
empfohlen.


Mit anderen Worten bedeutet dies, dass wir uns ein Selbstbild,
ein Menschenbild und ein Weltbild machen sollen. Und wie? Durch
Erkenntnis. Durch freimaurerische Erkenntnis.


***


Als ich noch Suchender gewesen bin, also ein Interessierter an
der königlichen Kunst, der seinen Aufnahmeantrag bereits gestellt
hatte, habe ich den damaligen Redner unserer Loge - der heute ich
das Glück habe sein zu dürfen - gefragt, ob die Freimaurerei denn
eine eigene Erkenntnistheorie habe. Und damit habe ich ihn
überfragt.


Es gibt einiges im freimaurerischen Schrifttum über Erkenntnis zu
lesen. Eine Erkenntnistheorie aber taucht meines Wissens nach an
keiner Stelle so bezeichnet auf. Wenn man es bedenkt doch eine
erstaunliche Lücke. Allerdings ist auch das nur die halbe
Wahrheit. Denn die Schriften, in denen sich damit befasst wird,
wie vornehmlich die Rituale, Symbole und Bräuche Wissen, Weisheit
und Erkenntnis vermitteln, wie sie zur Bildung, Entwicklung und
Erziehung beitragen, sind sehr zahlreich.


Gerne wird dabei allerdings etwas vergessen. Erstens der Mensch
als Individuum und zweitens der Mensch in Gemeinschaft. Das muss
man mitbedenken, wenn es um Erkenntnis geht. Um so mehr, wenn es
um freimaurerische Erkenntnis geht, denn Freimaurerei ist wohl
der harmonischste Zustand zwischen freier Individualität und
verbindlicher Gemeinschaft. Und die Rituale, Symbole und Bräuche
in unserem ethischen Bruderbund wirken auf nichts anderes als den
Menschen.


Die Wissenschaften aber, die den Menschen natur-, kultur-,
geistes- oder sozialwissenschaftlich konkreter, exakter,
umfangreicher beschreiben und fassen, sind erst nach der
Entstehung der Freimaurerei zu wahrer Blüte gelangt. Die
königliche Kunst ist ohne Zweifel von der Aufklärung geprägt,
aber die Aufklärung selber, inklusive ihrer großen Vordenker wie
John Locke oder zentraler Figuren wie Emanuel Kant, hat zwar den
Grundstein für die Entwicklung der Humanwissenschaften im
anthropologischen Sinn gelegt, konnte selber von den geistigen
Gebäuden, die auf diesem Fundament errichtet worden sind, aber
noch nicht profitieren. Und so konnte es auch die Freimaurerei
noch nicht.


***


Freimaurerei ist ohne ihren zentralen Gegenstand, den Menschen,
nicht denkbar. Eine Erörterung ihrer Formen und Inhalte ohne
Berücksichtigung des Menschlichen muss scheitern. Wer immer etwas
über die Freimaurerei sagt oder schreibt, der kann dies nur aus
seinem individuellen Erleben heraus, wenn er dabei über eine
blutarme und seelenlose Deskription hinausgehen will. Dieses
Erleben mag noch so stark von einem gemeinschaftlichen Erlebnis
geprägt sein, mag noch so verbunden und verbindlich stattfinden,
aber das Erlebnis der Freimaurerei meines Bruders ist nicht mein
eigenes. Deshalb verbietet sich jeder Versuch es schildern zu
wollen. Hier liegen einige der natürlichen Grenzen der Erkenntnis
in der königlichen Kunst.


Aber Achtung! Es verbietet sich keineswegs der Versuch, den
Bruder in seinem Erleben verstehen, nachvollziehen zu können. Und
es verbietet sich auch nicht der Versuch, das eigene Erlebnis im
als individuell gültig deklarierten Rahmen zu beschreiben. Ganz
im Gegenteil. Beides empfielt sich sogar. Denn die Empathie und
Perspektivübernahme, die man braucht, um des Bruders Erlebnis der
Freimaurerei nachempfinden und nachvollziehen zu können, sind
Werkzeuge der menschlichen Erkenntnis, mit denen man den Umgang
in diesem Prozess übt. Und selber zu versuchen, sein eigenes
Erlebnis der Freimaurerei zu beschreiben, verbalisieren,
auszudrücken ist ebenfalls ein Prozess des Erkenntnisgewinns.


***


Es ist außerordentlich schwierig den Gleichklang der Herzen zu
beschreiben, der sich in der Verbindung von Menschen mit so
unterschiedlichen Einstellungen, Haltungen und Meinungen ergibt,
deren Melodien des Geistes so variant sind, wie er in der
Freimaurerei gegeben ist. Es ist wie ein Orchester, zu dem jeder
die Instrumente mitbringen kann, die er beherrscht. Der Dirigent
ist die Loge mit allem, was sie ausmacht. Und am Ende erklingt
eine Symphonie von so erhabener Schönheit, dass jeder, der sie
gleichsam produziert und rezipiert, lebenslang ergriffen ist.


Jeder bringt seine Erkenntnismöglichkeiten und seine
Vorstellungen von Erkenntnis mit in die Loge. Dort dürfen die
Brüder daran teilhaben. Wir teilen Erkenntnisse und können in den
Brüdern Vorbilder ausmachen, die uns vorleben, wie man die
Erkenntnisfähigkeit steigern und alternativ ausleben kann. Wir
können uns daran orientieren, welchen Erkenntnisweg der Bruder
geht und wie er Erkenntnisse einordnet. Und letztlich ist mit der
einzigartigen Kombination aus Ritualen, Symbolen, Bräuchen und
Brüdern ein Erlebnisraum gegeben, den wir ausschließlich in der
Freimaurerei vorfinden und betreten können.


***


Welchen Erkenntnissbegriff hat also die Freimaurerei? Es ist
keiner der eingangs beschriebenen, nicht der wissenschaftliche,
nicht der des Glaubens und nicht der alltagssprachliche. Vielmehr
ist er eine Synthese aus diesen, die dort eine Verbindung
eingeht, wo die jeweiligen Erkenntnisbegriffe ihre Stärken haben
und eine solche vermeidet, wo sie ihre Schwächen haben.


Wissenschaftliche Erkenntnis kann wahr und wirklich sein, aber
vollkommen bedeutungslos, irrelevant oder gar schädlich.
Spirituelle Erkenntnis kann schön, erhebend und erfüllend sein,
aber falsch, beschränkt und ebenfalls schädlich. Und auch die
alltagssprachliche Erkenntnis als Wahrnehmungs- oder
Verstandesprodukt kann schaden, obwohl sie stark ist. Unser
Gehirn ist von Natur aus wesentlich besser darin, Wahrheiten und
Wirklichkeiten auszublenden und nicht zu erkennen, als sie zu
erfassen. Das zeigen unsere neurobiologisch vorhandenen Filter
sehr eindrücklich. Insofern erscheint der Aufenthalt in einem
Erkenntnisraum wie der Freimaurerei, in dem wir durch das
Erlebnis und die Erfahrung zwangsläufig neue Erkenntnisse sammeln
dürfen, können und müssen, durchaus sinnvoll.


Freimaurerische Erkenntnis ergibt sich individuell und kann
deshalb nicht verbindlich bestimmt werden. Aber es kann
festgehalten werden, dass sie ein harmonischer Zusammenklang aus
etwas gedachtem, etwas empfundenen, etwas gefühltem, etwas
geglaubtem, etwas gewusstem, etwas wahrgenommenem und etwas
erlebtem ist. Analog konstituiert sich das Ritual. Es ist
Gedanke, Empfindung, Gefühl, Glauben, Wissen, Wahrnehmung und
Erlebnis, eben Erkenntnis.


***


Und genau dadurch, dass wir am Ritual teilnehmen und uns im
Bruderkreis aufhalten, trainieren wir einen sehr besonderen
Prozess der Erkenntnis, üben wir denken, empfinden, fühlen,
glauben, wissen, erleben und wahrnehmen. Das machen wir
gemeinsam. Und dennoch kommen am Ende weder gleiche
Erkenntnisfähigkeiten, noch Erkenntnismethoden oder
Erkenntnismöglichkeiten bei uns heraus.


Die Freimaurerei ist eine Schule der Erkenntnis. Und wie aus der
Schule nicht alle gleichbegabt herausgehen, wohl aber alle
gefördert in ihren Talenten, ausgestattet mit Methoden, ihre
Möglichkeiten so weit es geht ausschöpfen zu können, kommt der
Freimaurer aus dem Ritual und aus der Loge in das profane Leben
zurück, um dort mit seinen gesteigerten, weil geübten,
Erkenntnismöglichkeiten, positiv gestaltend auf sein Umfeld
einzuwirken.


Der eine hat also gelernt, sein mitgebrachtes Instrument noch
besser zu spielen, der andere hat sich mit neuen Instrumenten
vertraut gemacht. Beide konnten erleben, wie schön es im Wirken
und im Werk wird, wenn gemeinsam und doch individuell musiziert
wird. Aber im profanen Leben ist der Freimaurer wieder ein
Solist. Die Verhältnisse kehren sich um. Er musiziert vornehmlich
individuell, aber doch im Geist der Gemeinschaft, deren Teil er
ist.


***


Viele unserer Werte, die wir in der Freimaurerei bearbeiten, so
beispielsweise Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit, Toleranz und
Humanität, sind zugleich Methoden der Erkenntnis. Es ist kein
Zufall, dass Sir Karl Popper einerseits mit seinem Werk "Die
Logik der Forschung" einen Meilenstein der Erkenntnistheorie
vorgelegt hat, andererseits mit "Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde" ein Buch, das eben solche Werte grundlegend vor dem
gesellschaftlichen Hintergrund reflektiert. Erkenntnisse und
Werte gehen eine engere Verbindung ein, als man dies annehmen
würde.


Die Freimaurerei trägt genau dem inhaltlich und formal Rechnung.
Vielleicht musste hier insbesondere für die Nicht-Freimaurer ein
wenig des erhellenden und aufklärerischen Potentials der
königlichen Kunst im Verborgenen bleiben, da es sich nur über das
Erlebnis erschließen kann. Wir sollen als Freimaurer uns, unsere
Mitmenschen und die Welt erkennen. Und die Freimaurerei gibt uns
die Mittel und Gelegenheit an die Hand, dies zu machen.


Freimaurerei ist Selbstaufklärung des Menschen und der
Freimaurerei selber durch Selbsterkenntnis. Das einzige
Geheimnis, das die Freimaurerei wirklich hat, ist das Rätsel
ihrer eigenen Identität, wie es jeder einzelne Mensch in sich
trägt. Freimaurerei ist der Versuch, beides durch Erkenntnis
aufzuklären. Dabei gehen wir methodisch weit über den
Alltagsbegriff der Erkenntnis hinaus, fühlen uns nicht einer
spezifisch akademisch-disziplinären Vorgehensweise verpflichtet
und erlauben uns in einem spirituellen Sinn, der von der
bestimmten Glaubensbindung befreit ist und nicht im Widerspruch
zur Wissenschaft steht, dem Menschen und der Freimaurerei auf die
Spur zu kommen.


***


Ich hoffe, dass Ihnen das Geleit, das ich Ihnen für diese kleine
Runde geben konnte, angenehm gewesen ist. Meine Wanderung wird
weitergehen. Vielleicht begegnen wir uns auf ihr eines Tages
wieder. Mich würde es freuen.

Alexander Walter

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