Folge 10: Die Tugend, die Selbsterkenntnis und das Verhalten

Folge 10: Die Tugend, die Selbsterkenntnis und das Verhalten

26 Minuten
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Der Podcast für Brüder, Schwester und alle, die sich für Freimaurerei interessieren. Ausgewählte "Zeichnungen" (Impulsvorträge) von Freimaurern.

Beschreibung

vor 3 Jahren

 Die Tugend, die Selbsterkenntnis und das Verhalten


Von Alexander Walter





Wer Freimaurer ist, der sollte sich auch mit Tugenden befassen.
Unsere Rituale, Symbole, Bräuche und Sitten müssen ohne die
Auseinandersetzung mit dem Begriff der Tugend sinnleer bleiben.
Nicht, dass man sie in dieser oder jener Weise aufzufassen, zu
interpretieren oder zu leben hätte, aber die Begegnung mit ihr
ist Pflicht. Und davon, liebe Zuhörer, wird auf diesem
Spaziergang die Rede sein.


***


Lassen Sie mich zunächst von einem Fehler berichten, den wir
Menschen - mich eingeschlossen - gerne machen. Wir betrachten
unser eigenes Verhalten, Erleben und Erfahren, gehen in uns,
bedenken, reflektieren, introspizieren uns, nehmen uns also
selbst wahr und projezieren dann gerne das Tugendhafte und die
Tugenden in das Wahrgenommene hinein. Wir machen es nur selten
umgekehrt. Tugend ist nicht sehr häufig die Verhaltensmotivation.
In etwas größerem Umfang kommt sie verhaltensmodulierend zur
Geltung; In diesem Fall in aller Regel über die Instanz des
Gewissens. Welche Tugenden sich in diesem Gewissen
widerspiegeln, ist eine Frage der Erziehung, Sozialisation und
Bildung.


Es gibt also einen Richtungsfehler bei der Bestimmung des
Tugendhaften in unserem eigenen Verhalten. In sozialem Kontext
oder vor sich selbst ist es bedeutsam für uns, uns als tugendhaft
zu erleben. Aus soziologischer und psychologischer Sicht
verhalten wir uns also zuerst und suchen danach das Tugendhafte
darin. Dies ließe sich natürlich noch einfacher biologisch
herleiten. Aus ethischer Sicht aber beanspruchen wir ständig,
dass dies umgekehrt sei, wir also von der Tugend zum Verhalten
gekommen sind. Vielleicht ist die Ethik, die ich gerade in
praktischer Hinsicht sehr schätze, ein so zahnloser Tiger
geworden, weil sie solche Menschlichkeiten nicht oder nur
unzureichend berücksichtigt.


Der Mensch und Maurer mag mir hier widersprechen und diesen
Richtungsfehler leugnen. Und nicht wenige Schwestern und Brüder
sehen eine der Stärken der Königlichen Kunst besonders darin,
dass wir - angeregt durch den Sinnspruch des Lehrlingsgrades
"Schau in Dich" - zur Selbsterkenntnis animieren, dann über die
Aufforderung zur ‚Arbeit am rauen Stein‘ die
Persönlichkeitsentwicklung fokussieren und schließlich über das
Bild des ‚gemeinsamen Tempelbaus der Humanität‘ ein Ziel
formulieren, auf das unser individuelles Verhalten gerichtet sein
soll. Da will ich auch gar nicht widersprechen. Das ist stark.
Aber wie wirkmächtig ist es? Und: Könnte es gar kontraproduktiv
sein?


***


Zum einen ist es so, dass wir weder die einzigen sind, die zur
Selbsterkenntnis aufrufen, zum anderen sind wir nicht diejenigen,
die sie erfunden haben. Durch Achtsamkeit, Yoga, Körperarbeit,
Meditation, Coaching und unzählige weitere Ansätze wird hier
alter Wein in ständig neue Schläuche gegossen, kommerziell
vermarktet und die nächste Sau durch die Gassen getrieben. Daran
wäre auch  nichts zu kritisieren, würde es dadurch nicht zu
einem Paradoxon kommen. Die Menschen kommen mit diesen Methoden
eben leider nicht unbedingt näher zu sich, erkennen sich nicht
besser, klarer, intensiver oder realistischer. Sie entfernen sich
mit diesen sogar manchmal von sich, ohne dies aber zu merken. Ich
behaupte also, dass einige der Menschen, die sich dieser Methoden
bedienen, einerseits in dem Glauben leben, sich besonders gut
erkannt und wahrgenommen zu haben, in besonderer Weisheit und
Bewusstheit über sich selbst und das Menschliche an sich zu
leben. Andererseits aber ist genau das Gegenteil der Fall: Wer
über Erkenntnisse, Energien und Kräfte nachdenkt, die nur ihm
oder ganz wenigen Menschen bekannt sind, der gehört wohl zu einer
freiwilligen Minderheit, aus der heraus sich die Mehrheit nur
schwer verstehen lässt. Ich behaupte, dass vielen Menschen die
Selbsterkenntnis, wie sie heute an jeder Ecke geprerdigt wird,
nicht gut tut. Was soll denn bitte ein Egoist und Narzist durch
Selbsterkenntnis auch wahrnehmen?


Selbsterkenntnis kann nur dann sinnvoll werden, wenn sie mit
Fremderkenntnis einhergeht. Und darin haben wir heute die größere
Schwäche. Uns selbst verstehen wir ganz gut, nur die anderen
nicht. Wenn ich die inflationär verbreitete Aufforderung zur
Selbsterkenntnis kritisch hinterfrage, dann muss ich sie auch in
der Freimaurerei diskutieren. In ihr findet dieser Apell zur
Selbstaufklärung in einem Rahmen statt, der mit den besonderen
Mitteln der Rituale, Symbole und Bräuche die Schwestern und
Brüder befördert. Die Königliche Kunst ruft also nicht nur zur
Selbsterkenntnis auf, sondern stellt auch besondere Mittel zu
deren Umsetzung zur Verfügung. Das aber machen fast alle Systeme,
die sie anregen.


Auch das macht sie also in diesem Sinne noch nicht
erstrebenswert. Aber - und hier hebt sich die Freimaurerei sehr
deutlich von vielen Methoden ab, die die Selbsterkenntnis
predigen und anleiten - sie kombiniert es mit der Aufforderung
zur Fremderkenntnis. Der Geselle wird angehalten, um sich zu
schauen, seine Mitmenschen wahrzunehmen und zu verstehen. Als
Freimaurer sollen wir also nicht nur ein realistisches Selbstbild
entwickeln, wir sollen auch Empathie erlernen. Erst dadurch
erhält die Selbsterkenntnis eine Wertigkeit.


Als Meister schließlich werden wir aufgerufen, über uns zu
schauen. Und dadurch erreichen wir das große "Warum", und damit
sind wir auch bei den Tugenden. Warum überhaupt tugendhaft leben?
Wir beziehen uns in der Begründung gerne auf Immanuel Kant und
seinen kategorischen Imperativ, den er 1785 in der "Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten" eingeführt hatte. "Handle nur nach
derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie
ein allgemeines Gesetz werde". Da stecken Selbst- und
Fremderkenntnis zu gleichen Teilen drin. Wir sollen moralisch
gut, ethisch korrekt, sittlich annehmbar handeln, weil wir selber
wollen, dass man ebenso mit uns umgeht. Der kategorische
Imperativ hat natürlich dort seine Schwäche, wo er das Individuum
- und damit auch seine Fähigkeit zur Selbsterkenntnis - zum
Maßstab macht, an dem das Allgemeine, das Gesetz festgemacht
werden soll oder kann. 


Denn das Individuum kann der falsche Maßstab sein. Diese Stärke
hat der kategorische Imperativ jedoch in der Aufforderung zur
Selbsterkenntnis im Abgleich mit der Fremderkenntnis. Das
Menschliche in sich kann man nur erkennen, wenn man es auch in
anderen gesehen hat. Und die Selbsterkenntnis, wenn man in der
Lage ist, sie mit einer gewissen Selbstdistanziertheit und
kritisch zu betreiben, wird auch Regungen, Impulse und
Motivationen in einem selbst aufdecken, die unzweifelhaft
vorhanden sind, aber ganz sicher nicht als Grundlage einer
allgemeinen Gesetzmäßigkeit herhalten können. Welche an und in
sich erkannten Dinge dazu geeignet sind, entscheidet die
Fremderkenntnis, entscheidet die Menge an Menschen, die
offensichtlich gleiches in sich gefunden haben.


***


Reine Selbsterkenntnis kann also pathologische Selbstbezogenheit
sein. Sie muss es sogar werden, wenn nicht ausreichend mit den
Mitmenschen interagiert wird. Und doch ist Tugend ohne
Selbsterkenntnis nicht denkbar. Es muss nur etwas hinzukommen,
damit sie sinnvoll sein kann. Überdies birgt sie die Gefahr der
Selbst-Verkenntnis, die nichts anderes leistet als die
Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildnisses. Wer in der
Selbsterkenntnis irrt, der weiß letztendlich nicht, wer er ist.
In der Vermeidung dieses Fehlers liegt der große Schatz unserer
Bruderschaft (resp. Schwesternschaft). Denn im Bruder / in der
Schwester kann man sehen, wer man noch ist, was man auch in sich
hat. Doch kann man es nur sehen, wenn es einem der Bruder / die
Schwester auch zeigt. Deshalb sind Vertrauen, Ehrlichkeit,
Aufrichtigkeit und Authentizität bei uns auch besonders wichtig.
Und ohne Toleranz, Zurückhaltung und grundsätzliche Höflichkeit
kann diese ausgeprägte Andersartigkeit der Schwestern und Brüder,
in der man dann doch auch Gemeinsamkeit erkennen kann, wenn man
sie wahrnimmt und bedenkt, nicht ausgehalten werden. Die
maurerische Selbsterkenntnis erhält ihre Qualität und Güte nicht
dadurch, dass sie durch das Ritual und die Symbole über eine
magische, unfehlbare, zwangsläufig treffsichere Methode verfügen
würde, sondern dadurch, dass sie im Bruderkreis stattfindet, mit
dem ein wirkmächtiges Regulativ und Korrektiv gegeben ist.


***


Lessing hat in seinen "Ernst und Falk - Gesprächen für
Freimaurer" 1778 festgehalten: "Die Freimaurerei ist nichts
Willkürliches, nichts Entbehrliches; sondern etwas Notwendiges,
das im Wesen des Menschen und in der bürgerlichen Gesellschaft
gegründet ist. Folglich muss man auch durch eigenes Nachdenken
eben sowohl darauf verfallen können, als man durch Anleitung
darauf geführet wird." Das Wesen des Menschen kann man nur durch
Selbsterkenntnis und Fremderkenntnis begreifen, ebenso das der
bürgerlichen Gesellschaft. Ob man die Geisteshaltung der
Freimaurerei annimmt, die sich in Taten zu beweisen hat (dadurch,
dass man sich in der Königlichen Kunst zu ihr führen lässt, was
bedeutet, dass ein bestimmtes Denken und Handeln durch die
Rituale, Symbole und Brüder inspiriert wird), oder dadurch, dass
man ohne diese "Anleitung", die nicht mehr als Vorbild und
Inspiration sein kann, durch "eigenes Nachdenken" auf sie
verfällt - es kann nicht ohne den Blick in sich, um sich und über
sich gehen.


Und es braucht zur Erkenntnis, die wir in der Maurerei durch das
viele Licht bei uns so schön darstellen, neben der Vernunft,
Logik, Rationalität und dem Verstand - die Kant mit seinem Werk
so vortrefflich begründet hat, sodass sich heute sehr viele
Wissenschaften in ihrer Methodologie auf ihn berufen - auch des
Gefühls, Einfühlungsvermögens, der Emotionalität und sogar
Intuition, damit das Individuum, der Mensch und die Gesellschaft
verstanden werden können. Selbsterkenntnis, Arbeit am rauen Stein
und Tempelbau der Humanität sind zeitintensive Prozesse, die ohne
Fremderkenntnis unmöglich sind und nicht in Lichtgeschwindigkeit
vor sich gehen. Wie der Einzelne sich nur verstehen kann, wenn er
sich in Relation zu den anderen setzt,  die er Kraft der
Vernunft und der Empathie verstanden haben sollte, so kann sich
eine Gruppe von Menschen wie eine Loge oder die Freimaurer nur
selbst erkennen, wenn sie sich in Relation zu anderen Gruppen
setzt, die sie ebenfalls mit rationalen und emotionalen Mitteln
begriffen haben sollte. Und die Gruppe muss sich in Beziehung zu
der Gesellschaft setzen, in der sie existiert, die sich wiederum
in der Weltgemeinschaft einordnen muss.


***


Wir sehen also auch hier, dass isolierte Selbsterkenntnis nicht
zu viel führen kann. Ihr dennoch außerordentlich hohes Potential
liegt grundsätzlich in ihrer Relationalität. In Kombination mit
Fremderkenntnis als Verbindung von Verstandeseinsicht und
Einfühlungsvermögen wird sie uns gemäß der Kant'schen Ideen der
Aufklärung, des kategorischen Imperativs, und den allgemein
erklärten Menschenrechten führen. Kants Essay "Beantwortung der
Frage: Was ist Aufklärung" war 1784 erschienen, die ‚allgemein
erklärten Menschenrechte‘ formal erst 1948, noch später – 1997 –
die proklamierten Menschenpflichten – lange, nachdem Herder im
Begriff der Humanität als Synthese von Menschheit,
Menschlichkeit, Menschenliebe, Menschenwürde, Menschenrechten und
Menschenpflichten in seinen "Briefen zur Beförderung der
Humanität" zwischen 1793 und 1797 ausgearbeitet hatte. 


    Ich hatte provokant gefragt, ob die
Selbsterkenntnis nicht auch kontraproduktiv sein kann. Ich glaube
ja. Sie muss es immer dann werden, wenn sie misslingt. Es hängt
aber davon ab, ob man unter Selbsterkenntnis einen Prozess oder
ein Ergebnis versteht. Ist das Selbsterkennen erfolgreich, führt
es also mit bestimmten Mitteln zu einem realistischen Selbstbild,
und, steht dieses Selbsterkennen gleichberechtigt neben einem
gelungenen Fremderkennen, dann ist Selbsterkenntnis wertvoll und
alles andere als kontraproduktiv. Ist das Selbsterkennen
allerdings methodisch schwach, illusionär, antiaufklärerisch und
führt zu einem unrealistischen Selbstbild, dass sich nur im
eigenen und keinem anderen Spiegel zeigt, dann mag der eine
sagen, dass es sich gar nicht um Selbsterkenntnis handelt, der
andere, dass es falsch verstandene Selbsterkenntnis sei. Ich
behaupte, sie ist dann auch kontraproduktiv. Selbsterkenntnis,
die nicht der Aufklärung verpflichtet ist, also dem "Ausgang des
Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", sondern
vielmehr dem Gegenteil, also des Menschen "Eingang in dessen
selbstverschuldete Unmündigkeit", da sie sich auf unaufgeklärte,
obskure, herbeiphantasierte, eingebildete Kräfte, Energien und
Wirkmechanismen beruft, muss man wohl als kontraproduktiv
bezeichnen.


Wirklich wichtig zu verstehen an der Freimaurerei ist, dass wir
zwar unsere Selbsterkenntnis im Bruderspiegel betreiben, also
stets relational, umgeben von Ritualen und Symbolen, die in uns
hineinwirken, aber, dass wir nie, obgleich wir uns in unseren
Mitmenschen sehen, diese abwertend beurteilen. Wir arbeiten an
unserem eigenen rauen Stein, uns dabei wohl daran orientierend,
wie die uns umgebenden Brüder ihre Steine bearbeiten, aber wir
arbeiten nie am rauen Stein des Bruders. Wir wollen den Bruder
und den Mitmenschen erkennen, nicht um ihn zu maßregeln oder gar
zu verurteilen, sondern nur, um uns selbst besser erkennen zu
können. Dann arbeiten wir auf Basis dieses realistischeren
Selbstbildes an uns. Und wenn es gelingt, werden wir zu einem
immer weiter an sich arbeitenden Vorbild für jüngere Brüder, die
noch Orientierung für ihre eigene Arbeit an ihrem rauen Stein
suchen.


Eingangs hatte ich gesagt, dass dem Maurer die Begegnung mit der
Tugend eine Pflicht sei. Er begegnet ihr im Bruder und in sich.
Aber er begegnet dort auch der Untugend. Nun, wer mit Menschen
zusammentrifft, der stößt dort unweigerlich auf beides. Die
Maurerei zeichnet aus, dass sie ein vertrauensvoller Raum ist,
indem man nicht vorspiegeln muss, tugendhafter zu sein, als man
es tatsächlich ist. Und genau darin, dass sie die Untugend nicht
leugnet, sie sogar dazu auffordert, sie zu erkennen, liegt eine
ihrer Qualitäten. Denn es ist eine Tugend, die Untugend in sich
nicht zu verkennen und in anderen das Tugendhafte zu sehen und es
in seiner eigenen Interpretation und nach seinen Möglichkeiten
nachzuahmen.


Die maurerische Selbsterkenntnis stellt die Frage nach den
Tugenden in demjenigen, der sie betreibt. Sie wird - orientiert
an den Brüdern und Werten der Freimaurerei - formuliert und mit
den Mitteln, die der Königlichen Kunst zueigen sind, beantwortet.
Anfangs hatte ich auch vom menschlichen Richtungsfehler
gesprochen, davon, dass wir die Tugend von unserem Verhalten und
nicht unser Verhalten von der Tugend her ableiten. In der 1928
uraufgeführten " Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht wird genau
das wunderbar auf den Punkt gebracht: "Erst kommt das Fressen,
dann kommt die Moral." Nur kommt vor dieser eben nicht nur das
Fressen. Wir haben auch Hunger auf Anerkennung, Geld, Macht,
Luxus, Sex und vieles mehr. Reine Selbsterkenntnis würde einem
nicht mehr sagen, als dass man Appetit auf all dieses hat. Erst
die Fremderkenntnis, Empathie und Betrachtung der Menschlichkeit
generell kann uns dazu bringen zu verstehen, dass auch die
anderen von diesen Lüsten und Verhaltensmotivationen getrieben
sind.


Ich hatte auch betont, dass verhaltensmodulierend das Gewissen
eingreift. Und das wird in der Freimaurerei sehr groß
geschrieben. Das Winkelmaß, das man so häufig inner- und
außerhalb der Freimaurerei zu sehen bekommt, steht genau dafür.
Wir legen es an unsere Taten an, um zu bestimmen, ob diese
geradlinig und winkelrecht sind. Und es sei betont, wir legen es
nicht an unsere Gedanken, unseren Glauben oder unsere
Vorstellungen an. Wir vermessen die Lebenspraxis, ein jeder seine
eigene. Und im Gewissen konkurrieren die Tugend und die Untugend
in uns, ringen miteinander um die Vorherrschaft der
Verhaltensbestimmung. Als Freimaurer und Humanist glaube ich,
dass die Tugenden um so mehr Chancen haben sich durchzusetzen, je
vertrauter und bekannter sie uns aus der Anschauung, aus dem
Erlebnis, aus dem Vorbild, aus der Praxis, die sie letztlich
dominieren sollen, sind. Freimaurerei ist in dieser Hinsicht auch
Gewissensbildung. Und zwar eine, die das praktische, emotionale
und soziale Gegenüber dem rein rationalen, kognitiven oder
spirituellen betont, auch wenn es letztere in ihrer Bedeutung
keineswegs verkennt.


Das Gewissen und die Sittlichkeit sind für viele wohl eine Frage
der Theologie, Philosophie oder Ethik. Sie aus diesen
Perspektiven zu betrachten ist unzweifelhaft interessant. Aber
für mich sind sie auch eine Frage der Psychologie, Soziologie und
Pädagogik. Und diese können sie in weiteren Dimensionen
wirkmächtig und effektiv untersuchen, erfassen und abbilden. In
den Alten Pflichten von 1723, einem sehr zentralen Dokument für
die Freimaurerei, die mit der ersten Großlogengründung 1717 in
London kurz vorher ihren aufklärerischen Siegeszug institutionell
angetreten hatte, steht geschrieben, dass der Maurer als Maurer
dem Sittengesetz zu gehorchen hat. Er ist zu der Religion
verpflichtet, in der alle Menschen übereinstimmen. Diese kann nur
die Humanität sein. So wird ausgeführt, wie der Maurer zu sein
hat: "Es sollen also gute und redliche Menschen sein, von Ehre
und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf,
welche Überzeugungen sie sonst vertreten mögen. So wird die
Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und zu einem Mittel,
wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst
ständig fremd geblieben wären." 


Die Freimaurerei ist also durchaus ein ethischer Bruder- und
Schwesternbund, religiös und spirituell dahingehend, dass es
verbindliche Werte in ihr gibt. Aber sie ist keine abgeschlossene
Ethik, keine Religion und kein spirituelles System. Sie ist
verhaltensorientiert, praktisch und konkret, obwohl sie sich
abstrakter Methoden und Mittel bedient. Symbole, Rituale und
Bräuche sind kein Selbstzweck, die sich selbst oder ihrer
Schönheit genug wären. Vielmehr sind sie handlungsorientiert, auf
Humanität gerichtet. Sie kann weder von ihren Methoden, noch von
ihrer Zielsetzung her in Form einer reinen Selbsterkenntnis
stattfinden, da sie immer der Menschen und Brüder bedarf, immer
einen sozialen und gesellschaftlichen Kontext und Bezug haben
muss. Sie ist auf den Einzelnen und sein Gewissen gerichtet, will
ihn zur Humanität inspirieren und anleiten, ohne ihn allerdings
zu manipulieren, zu zwingen oder sein Verhalten durch
Suggestionen zu modulieren.


Symbole, Rituale und Bräuche sind eine Frage der Interpretation,
durch die man diese letztlich aufzuklären versucht. Wir üben
Aufklärung durch Aufklärung und Ethik durch Ethik. Und doch
bleiben wir dabei adogmatisch. Wir schreiben niemandem vor, was
er zu erkennen hat. Aber wer sich uns anschließt, der erklärt
sich einerseits bereit, an seinen Erkenntnismöglichkeiten und
seiner Erkenntnisfähigkeit in spezifischer Weise zu arbeiten,
andererseits sie auf sich, seine Mitmenschen und die Welt zu
richten. Der eine mag diese oder jene Tugend als wesentlicher
erachten, der andere der Idee anhängen, die Menschen müssten nur
besser sich selbst verstehen, damit sie auch miteinander
liebevoller umgehen würden. Wir Freimaurer sind da sehr
verschieden. Manche nennen unser Ziel nicht einmal Humanität.
Aber in einem sind wir uns doch alle einig. Unser Traum ist eine
bessere Welt. Wir wissen, dass es nur ein Traum ist, dass wir den
Tempel der Humanität ewig bauen dürfen, sollen und müssen, aber
alle Taten, die wir aus diesem Traum heraus begehen,
manifestieren sich in der Wirklichkeit, sind Realität. 


Der Wunsch, Realitäten positiv durch Taten zu beeinflussen,
begründet also, warum wir mit der Freimaurerei zwar zum einen nur
einen Traum, eine Utopie erschaffen haben und am Leben erhalten,
zum anderen aber mit diesem artifiziellen Kunstprodukt im
Nirgendwo und Überall eine starke Verhaltensmotivation für
Menschlichkeit ebenso kreiert haben wie eine
verhaltensmodulierende Gewissensarbeit. Die Freimaurerei selbst
ist eine Tugend. Sie bedarf der kritischen Selbsterkenntnis. Und
sie soll positives Verhalten bedingen. Die Religion, in der wir
und alle Menschen übereinstimmen, ist die Humanität. Und der
Glaube, der uns eint, ist der Glaube an das Gute und das Bessere.
Wir haben kein Problem damit, wenn wir verschiedene Wege dorthin
gehen. Ich freue mich über diejenigen, die mich auf den
Spaziergängen dabei begleiten. Aber gehen sie doch auch einmal an
der Seite einer anderen Schwester oder eines anderen Bruders.
Freimaurerei kann sich einem nur erschließen, wenn man sie sich
aus vielen Mündern hat erklären lassen. Wenn ich mich wieder auf
den Weg zu meinem nächsten Spaziergang mache, freue ich mich aber
selbstverständlich erneut auf Sie an meiner Seite. 


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