Folge 11: Sensitivität und Sensibilität

Folge 11: Sensitivität und Sensibilität

26 Minuten
Podcast
Podcaster
Der Podcast für Brüder, Schwester und alle, die sich für Freimaurerei interessieren. Ausgewählte "Zeichnungen" (Impulsvorträge) von Freimaurern.

Beschreibung

vor 3 Jahren

Sensitivität und Sensibilität


Eine Zeichnung von 


Alexander Walter





Heute, liebe Zuhörer, will ich auf dem Gang an Ihrer Seite die
Sensitivität und Sensibilität bedenken, mich also mit der
Wahrnehmung und der Empfindsamkeit, der Aufmerksamkeit und dem
Mitgefühl, dem Interesse und der Gefühlsbereitschaft
auseinandersetzen. Ich hoffe, dass Sie die frische Luft im Geist
und in der Seele genießen können.





***





Wenn wir Gästeabende in unserer Loge betreuen, dann sehen wir uns
nicht nur mit technischen Fragen konfrontiert: 


Was bedeuten Symbole? 


Wie funktioniert und wirkt das Ritual? 


Wie ist die Freimaurerei entstanden? 


Für welche Werte steht die Königliche Kunst? 


Wann und wie wird zusammengekommen? 


Gibt es eine Kleiderordnung? 


Warum sind Frauen bei rituellen Versammlungen in unserer Loge
ausgeschlossen? 


Was unterscheidet humanitäre und christliche Großlogen? 


Wo liegen die Besonderheiten in der Deutschen Freimaurerei? 


Auf welchem Weg kann man sich ihr anschließen? 


Wie kommt man zu einem Bürgen? 


Was kostet die Mitgliedschaft? 


Kann man später aus dem Lebensbund wieder aussteigen? 


Was erwartet die Bruderschaft von einem? 


Das und vieles mehr hören und beantworten wir gerne.








Eine Frage, die uns fast immer gestellt wird, ist die nach uns
als Menschen, als Persönlichkeiten. Wer sind wir? Was
unterscheidet die Gruppe von Freimaurern in der Loge von anderen
Gruppen, von anderen Menschen, anderen Vereinigungen? Was ist der
Unterschied zwischen einem Bruder und einem 'Profanen'? Diese
Grundfrage tritt in verschiedenen Gewändern auf, beginnend bei
der Frage nach unserer Altersstruktur, unseren Berufen, unseren
Nationalitäten, Glaubensrichtungen, politischen Einstellungen
oder dem wirtschaftlichen und sozialen Status. Oft fragt sich der
Interessierte dabei, ob er dazu passt, ob er in dieser so
heterogenen und vielfältigen Gruppe Zugehörigkeit empfinden kann.
Und er tut gut daran. Wie die Loge im Prozess des gegenseitigen
Kennenlernens gut beraten ist, den Interessierten mit möglichst
vielen der verschiedenen Persönlichkeiten bekannt zu machen,
welche die Loge ausmachen. So kann er sich ein eigenes Bild davon
machen, wo die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen den
Brüdern liegen.





***





Wie unterscheiden wir uns also als Gruppe und Einzelne
systematisch - aber selbstverständlich auch nur durchschnittlich
- von Menschen, die keine Freimaurer sind? Wir erklären häufig,
in welchem Sinn wir uns nicht von der Gesellschaft abheben, deren
untrennbarer Teil wir sind. So sind wir kein Service-Club wie
Rotary International, Lions Club oder Round Table. Wir sind
ebensowenig eine Kirchengemeinde oder Glaubensgemeinschaft, wie
politisch programmatische Vereinigung oder klassisch soziale
Bewegung. Viele sehen in uns eine Elite, weil wir tatsächlich in
gewisser Hinsicht exklusiv sind. Allerdings beruht die
Exklusivität in den Logen nicht auf Äußerlichkeiten der Menschen,
sondern auf deren Innerlichkeiten. Geld, Macht, Status, Schönheit
oder andere flüchtige Vergänglichkeiten spielen bei der
Beurteilung der Zugehörigkeitsfähigkeit von Interessenten absolut
keine Rolle. Haltungen, Werteorientierung, Persönlichkeit,
Gruppenfähigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Verschwiegenheit,
Verantwortungsbewusstsein, Entwicklungsfähigkeit,
Zuverlässigkeit, Toleranz und Pflichtbewusstsein hingegen sind
ausschlaggebend.








Man könnte uns tatsächlich in seelischer, geistiger oder
ethischer Hinsicht als Elite auffassen - aber mir gefällt dieses
Selbstbild nicht. Vielleicht sind wir eine Gruppe, die aus
verschiedenen Gründen innerhalb der Gruppe der Menschen ein etwas
stärkeres Interesse an Humanität und Menschlichkeit, an Werten
und Sinn, an Ritualen, Symbolen, Traditionen, Gemeinschaft und
Bräuchen hat. Aber nicht jede systematische Unterschiedlichkeit
zwischen Gruppen begründet, dass man auf deren Basis von einer
'Elite' sprechen kann. Manche Menschen sind einfach anders als
andere und man kann diese Andersartigkeit auch versuchen,
wertfrei - nicht im Sinne eines "besser" oder "schlechter" - zu
beschreiben. Und diese "anderen" können sich auch zu Gruppen in
Logen zusammenfinden, ohne sich selbst für erhaben, erleuchtet
oder elitär zu halten.








Wenn ich aus Erfahrung darüber nachdenke, wie sich Freimaurer und
Nicht-Freimaurer (die wir in keiner Weise herablassend als
'Profane' bezeichnen) systematisch voneinander unterscheiden -
und ich versuche, dabei die unzähligen Freundschaften etwas außen
vorzulassen, die in der Königlichen Kunst auf natürliche Weise
über die Zeit gewachsen sind - dann fällt zunächst die Offenheit,
Zuwendung und das Interesse auf, mit der Freimaurer ihren
Mitmenschen und einander begegnen. Innerhalb der Freimaurerei
besteht daneben auch eine Vertrautheit und Gemeinschaft, die über
die verbindenden Symbole, Rituale und Bräuche angezeigt und
vermittelt wird. Sie kommt daher auch zum Tragen, wenn man
Schwestern oder Brüdern begegnet, die einem noch fremd
sind. 








Die Offenheit, Unvoreingenommenheit, Aufmerksamkeit, Zuwendung,
Ansprache, Wahrnehmung und das Interesse, das den Menschen durch
Freimaurer zuteil wird - sei es in der persönlichen Begegnung, im
Diskurs, in der Debatte und in der Diskussion gesellschaftlicher
Phänomene - ist ausgeprägter, als es ihnen durchschnittlich von
Nicht-Freimaurern entgegengebracht wird. Freimaurer nehmen ihre
Mitmenschen also aufmerksam wahr und reflektieren in ihnen sowohl
sich selbst, als auch die betreffenden Mitmenschen und das
Menschliche allgemein. Viele andere Menschen und Gruppen tun dies
nicht oder mit anderer zielgerichteter Ausrichtung:
Beispielsweise als Sportverein, der eine gegnerische Mannschaft
in ihrem Sportverhalten analysiert und reflektiert. Freimaurer
hingegen haben dieses humane Interesse zunächst aus sich heraus,
nicht als Mittel zum Zweck. Sollte man diesem besonderen
Interesse dennoch eine gezielte Funktion beimessen wollen, dann
höchstens im Sinne der Aufdeckung des Menschlichen im Maurer
selbst: Es soll ihm ein Anlass sein, besser an seinem eigenen
rauen Stein arbeiten zu können, seine Persönlichkeitsentwicklung
mit Realitätsbezug zu betreiben.


Schwestern und Brüder erscheinen mir daher einerseits sensitiver,
andererseits sensibler als Menschen, die nicht der Freimaurerei
nachgehen. Wirklich alle und jeder? Nein. Wie gesagt: Es geht um
Durchschnitte. Interessierte sollten nicht enttäuscht sein, wenn
sie auf unsensitive und unsensible Zeitgenossen in den Logen
treffen. Auch diese finden sich in unseren Reihen. Umgekehrt kann
man außerhalb der Freimaurerei auf Menschen mit erstaunlichen
Ausprägungen dieser Eigenschaften stoßen.





***





Sensitivität und Sensibilität haben einen gemeinsamen Kern: Die
Empfindsamkeit. Sensitivität ist die Empfindsamkeit nach außen,
Sensibilität die nach innen. Wer sensitiv ist, der verfügt über
eine ausgeprägte Fähigkeit zur Wahrnehmung, zur Interpretation
des Wahrgenommenen und zur Verarbeitung und Integration des
Wahrgenommenen und Interpretierten in seine Ideenwelt, in seine
Meinungen, Haltungen und letztlich in seine Persönlichkeit. Man
muss im rechten Maß sensitiv sein, weder hypo-, noch
hypersensitiv. Denn der Hyposensitive lebt in einer Anästhesie
der Sinne und Gedanken, die aus der fehlenden Empfindsamkeit
hervorgehen muss. Weil er taub und blind ist für seine Umwelt und
Mitmenschen, kann er keine zufriedenstellende und Glück
hervorbringende Verbindung zu ihnen knüpfen, wodurch er dazu
verdammt ist, in Isolation zu leben, mit mangelnden sozialen
Kontakten und dadurch unglücklich. Auch der Hypersensitive
verirrt sich in den Weg dieser menschliche Kälte, aber in
umgekehrter Weise. Er wird in seiner Empfindsamkeit durch das
Äußere, durch seine Wahrnehmung, Interpretation, Verarbeitung und
Integration nicht unter-, sondern überfordert. Stress entsteht.
Und um diesen zu vermeiden, wird ebenfalls die unheilsame
Isolation bevorzugt.








Bei der Sensibilität ist es ähnlich. Diese nach innen gerichtete
Empfindsamkeit mit einem starken Bezug zum Ich, zum Selbst oder
zur Persönlichkeit kann im Unter- oder Übermaß vorhanden sein.
Hyposensible Menschen lassen gar nichts an sich heran, setzen
letztlich nichts mit sich in Beziehung, existieren in einer Art
Selbstdistanziertheit, die sich vollständig in der Hülle um den
Kern der Persönlichkeit abspielt. Hypersensible Menschen hingegen
leiden am umgekehrten Problem. Sie können kaum selbstdistanziert
empfinden, denken oder agieren. Stets sind sie im Kern ihrer
Persönlichkeit gefangen und beziehen alles stark auf sich. 








Zum einen ist es so, dass es zwischen diesen Extrembereichen des
Zuviel und Zuwenig an Sensitivität und Sensibilität jeweils einen
großen Normalbereich gibt, in dem sich die Menschen in der Breite
unterscheiden, ohne in eines der beiden Extreme zu verfallen. Zum
anderen ist es so, dass sich die Menschen kaum darüber bewusst
sind, wenn sie hypo- oder hypersensitiv und hypo- oder
hypersensibel sind. Mir erscheint es fast so, als gäbe es kaum
einen anderen Bereich, in dem die Selbstbilder der Menschen so
verzerrt sind. Gefühlskalte, knallharte Individuen halten sich
ernsthaft für hypersensibel, selbstbezogene, egomane Narzissten
für hypersensitiv. 


Freimaurerei befasst sich weder mit Psychopathologie, noch mit
Persönlichkeitsstörungen. Betrachten wir also den breiten,
gesunden Normalbereich.





***





Die Schwestern und Brüder liegen durchschnittlich im oberen
Normalbereich von Sensitivität und Sensibilität. So scheint es
mir. Und mir fallen zwei Gründe ein, warum meine Beobachtung
korrekt sein könnte. Erstens muss es eine Ursache dafür geben,
dass sie sich einst nicht nur dem Bund der Freimaurer genähert
haben, sondern auch dafür, dass er ihnen so attraktiv erschien,
dass sie zu einem Teil von ihm werden wollten und konnten.
Zweitens sind unsere Rituale, die aktive Auseinandersetzung mit
den Symbolen und die gelebten Bräuche ja nichts, das in direkter
Weise oder durch reine Reflektion, Introspektion, Nachahmung von
Vorbildern, Handlungsorientierung oder Wertebezug, eine
Persönlichkeitsentwicklung und damit in Folge automatisch
humanitäre Haltungen und humanes Handeln befördern würden - so
sehr wir auch die Arbeit am eigenen rauen Stein, unsere
Entfaltung und Entwicklung der Persönlichkeit, betonen. 








Erstens ist der Bund der Freimaurer also für solche Menschen
geeignet, die sensitiv sind, die ihre Mitmenschen und ihre Umwelt
aufmerksam wahrnehmen und die sich über diese noch wundern können
- und dies keineswegs aus Dummheit, Naivität oder mangelnder
Lebenserfahrung. Sondern aus der Vermeidung einer progressiven
Desillusionierung, einer Ablehnung grober Verallgemeinerungen und
Generalisierungen, aus einem Blick für die individuelle Schönheit
der menschlichen Persönlichkeiten und des Menschlichen an sich,
aus dem Kampf gegen Verbitterung, den wir auf Basis menschlicher
Enttäuschungen immer wieder führen müssen, aus der natürlichen
Neugier, die so zugleich zu einer warmherzigen Zuwendung wird und
aus dem unerschütterlichen Glauben heraus, dass alle besser
werden können - man selbst, und die anderen.








Zweitens kann die Freimaurerei im eigentlichen, engeren Sinne nur
dann mit einer Schwester oder einem Bruder stattfinden, wenn
er/sie auch daran teilnimmt. Insofern muss er/sie regelmäßig an
ihr in Form der Rituale, Symbole und Bräuche teilhaben. Wir
behaupten, dass dieses Leben und Ausleben des Brauchtums im
positiven Sinn persönlichkeitsfördernd wirkt. Aber wie? Das ist
auch eine Frage, die uns häufig gestellt wird. Und die können wir
nicht ganz so gut beantworten. Oder genauer: Das können wir
durchaus, aber unsere Antworten fallen sehr unterschiedlich aus.
Das hat drei Gründe. Zum einen geschieht es auf sehr vielen
verschiedenen, komplex verworrenen, verbundenen und verschränkten
Wegen, die zu entwirren und darzustellen nicht so einfach ist.
Zum anderen erleben und bestimmen wir nicht nur die Wirkungen von
Ritualen, Symbolen und Bräuchen individuell - wir leiten sie uns
auch unterschiedlich her. Und letztlich empfinden wir die auf die
Persönlichkeit gerichtete Kraft in der Freimaurerei
unterschiedlich stark und vermuten sie in verschiedenen Aspekten,
sodass wir sie nicht nur hinsichtlich ihrer Relevanz, sondern
auch bezüglich ihrer Genese nur individuell erklären können.





***





Gerade zu Beginn war ich sehr skeptisch, ob die Freimaurerei
wirklich die Persönlichkeitsentwicklung würde zum Guten fördern
können, oder ob sie sich nur die Entwicklung und Entfaltung
derjenigen, die sich auch ohne sie prächtig gemacht hätten, auf
die Fahnen schreiben wollen würde. Heute bin ich mir absolut
sicher, dass sie Rahmenbedingungen und Mittel für eine
Persönlichkeitsentwicklung zur Verfügung stellt, die - ernsthaft,
verantwortungsbewusst und eifrig betrieben - weit über das
hinausgeht, was ohne die Königliche Kunst zu erreichen gewesen
wäre. Und weil ich dies so empfinde, frage ich mich natürlich um
so mehr, wie sie dies bewerkstelligt. Denn diese Entwicklung der
Persönlichkeiten sehe ich zwar in den Schwestern, Brüdern und in
mir - aber verstehen, begreifen und erklären kann ich sie daher
noch lange nicht.








Ich bin überzeugt davon, dass einer der Mechanismen, mit denen
die Freimaurerei die Persönlichkeitsentwicklung befördert, darin
besteht, die Übung und das Training der Sensitivität und
Sensibilität im Normalbereich mit den Ritualen, Symbolen und
Bräuchen in der Gemeinschaft der Loge zu praktizieren. Wie
sensitiv und sensibel wir sind, ist einerseits eine Frage der
Persönlichkeit, andererseits eine Frage der Tagesform. Bei beidem
kann die Freimaurerei dem Maurer helfen: Sensitiver und sensibler
zu werden, wo er es noch nicht ist - und weniger sensitiv und
weniger sensibel zu sein, wo Überempfindlichkeiten
existieren. 





***





Ich sagte zuvor, dass Maurer sensitiver und sensibler sind, also
im Kern empfindsamer, als dies Nicht-Freimaurer durchschnittlich
sind. Ich habe erläutert, warum dies vermutlich so ist. Ich will
aber auch die beiden Beobachtungen anführen, an denen ich meine
Behauptung festmache. Bei der Sensitivität bin ich mir recht
sicher. Da ich blind bin, schätze ich die Sensitivität und deren
verschiedene Anteile bei meinen Mitmenschen automatisch ein und
bewerte sie. Wie wahrnehmungskompetent sind sie? Können sie das
Wahrgenommene gut interpretieren und verstehen? Haben sie einen
Sinn für Ästhetik, der mehrheitsfähig ist? In manchen
Lebensbereichen ist das für mich einfach eine Frage von
Sicherheit. Man muss schon wissen, auf welche visuellen
Fähigkeiten man sich bei wem in welcher Situation verlassen kann.
Irrtümer hierbei sind schmerzhaft bis lebensbedrohlich. Und wenn
man trotz einer Blindheit wert auf optische Ästhetik legt, dann
sollte man auch wissen, wen man fragen kann und wen nicht.








Von Beruf bin ich Physiotherapeut und Osteopath. Und da geht es
oft um Schmerz und Wahrnehmung, entweder beispielsweise
Körperwahrnehmung und Selbsteinschätzung als Form der
Eigenwahrnehmung oder Fremdwahrnehmung als Kommentare, Meinungen
und Haltungen zu anderen Menschen im Gespräch. Und es ist
wahrhaft beeindruckend, wie schlecht die Menschen
durchschnittlich in der Wahrnehmung sind. Die Empfindsamkeit
schwankt zwischen einer absolut pathologischen Selbstbezogenheit,
die man nicht anders als hypersensitiv und zugleich hypersensibel
nennen kann, und einer absolut pathologischen Fremdbezogenheit,
die man nicht anders als hyposensitiv und hyposensibel zugleich
nennen kann.








Man könnte dies auch einfach Egoismus nennen, aber gerade in
Bezug auf ihr Gegenteil, den Altruismus, wird das dem
Beschriebenen nicht ganz gerecht. Egoismus und Altruismus lassen
sich auch im Verhalten, in Taten messen. Und vielleicht liegt
beiden, dem Egoismus die Hyposensitivität und Hyposensibilität,
dem Altruismus die Hypersensitivität und Hypersensibilität, eine
besondere Ausprägung und Kombination in den beiden Dimensionen,
zugrunde. Aber bei Sensitivität und Sensibilität geht es mir um
Wesensmerkmale der Persönlichkeit, die sich ja stets nur in einem
gewissen Umfeld ausdrückt. Egoismus und Altruismus entstehen
außerhalb dieser Persönlichkeit in Interaktion mit diesem Umfeld,
in Beziehung zu den Mitmenschen. Sensitivität und Sensibilität
aber entstehen innerhalb dieser Persönlichkeit, ebenfalls in
Auseinandersetzung und Beziehung mit der Umwelt und den Menschen.








Ich gehe davon aus, dass wir in einer Welt leben, in der es zu
viel Egoismus, zu viel Desinteresse an der Umwelt und an den
Mitmenschen, zu viel Ignoranz, betäubtes Dasein, Gefühlskälte,
Gleichgültigkeit und Desillusionierung gibt. Dieselbe Welt ist
aber auch eine, die voller Überempfindlichkeiten, voller
fehlgeleiteter Selbstwirksamkeitswünsche, voller verzerrter
Selbstbilder, gestörter Überemotionalität, blindem Aktionismus
und verirrten Sinnesbezügen ist. Das erlebe ich Tag für Tag. Und
mein Eindruck ist, dass dies in der Freimaurerei, in den
Schwestern und Brüdern, in einem weitaus besseren, günstigeren
Verhältnis steht. Freimaurer sind vor allem Menschen, denen nicht
einfach alles andere außer sie selbst egal ist. Sie sind sensitiv
für Menschen und das Menschliche. Und sie vermögen, es
realistisch zu erfassen, zu reflektieren und abzubilden. Gerade
das mag paradox erscheinen in einer phantastisch-utopischen Welt
aus Ritualen, Symbolen und Bräuchen, die oftmals nicht zeitgemäß
wirken. Aber wer die Utopien und Dystopien eines Thomas Morus,
Aldous Huxley oder George Orwell gelesen hat, der weiß, wieviel
Treffliches in ihnen über die Menschen nachzulesen ist.





***





Insgesamt ist Freimaurerei ein geistiges, seelisches, ethisches,
soziales, ästhethisches und humanes Umfeld, das die Sensitivität
- egal auf welchem Niveau sie zuvor war - in einem gesunden
Normalbereich hin zu besonderer Güte und Qualität fördert. 








Die Freimaurerei ist diesbezüglich anspruchsvoll. Und sie lässt
keinen Zweifel daran. In vielen Ritualen werden wir aufgefordert
"niemals der Not und dem Elend um uns her den Rücken zu kehren".
Das ist keine Aufforderung zum Voyeurismus. Das ist eine
Aufforderung zur Sensitivität.








Gleichsam ist es eine Aufforderung zur Sensibilität. Denn wir
sollen Not und Elend natürlich nicht nur wahrnehmen, sondern auch
nachempfinden, nachfühlen, mit der Empfindsamkeit, dem Mitgefühl,
dem Einfühlungsvermögen, der Empathie erfassen und uns in dem
Sinne empfänglich dafür zeigen, dass wir es anerkennen und zu
lindern versuchen. So arbeiten wir zugleich am rauen Stein und
üben Humanität. Ausdrücklich heißt es in vielen Ritualen, dass
"wir nicht gefühllos gegen das Leid und das Elend um uns her sein
sollen". Wir sollen sensibel diesbezüglich sein.





***





Und nun, gegen Ende des Spaziergangs rund um die Sensitivität und
Sensibilität auch noch ein paar selbstkritische Töne. Die
Freimaurerei will für Humanität und Aufklärung eintreten. Beides
kann ohne Selbstkritik und Selbstzweifel - verstanden als
Entwicklungsmotoren - nicht geschehen. Ich bin noch eine zweite
Beobachtung schuldig, die anzeigt, dass wir vielleicht etwas
sensitiver und sensibler sind als der Durchschnitt. Und diese
will ich auch offen, ehrlich und unmissverständlich formulieren,
allerdings aufgefasst als eine Selbstkritik, die auch mich
einbezieht. Am deutlichsten wird nämlich unsere Sensibilität mit
Tendenz zur Hypersensibilität dort, wo es zu Streit, Missgunst,
Kränkungen, Meinungsverschiedenheiten und allerlei anderem sehr
Menschlichen in der Freimaurerei kommt.








Da beginnen und führen Großlogen, Logen und Brüder Kleinkriege,
beleidigen einander, versuchen die Würde des maurerisch anders
Empfindenden anzugreifen, wo es von außen gesehen um absolute
Nichtigkeiten geht. Die Freimaurerei ist voller geglückter
Toleranz, aus der noch Freundschaft geworden ist. In ihr gibt es
aber auch gescheiterte Toleranz, aus der vollkommen überflüssige
Feindschaft gewachsen ist. In einem Feld, auf dem sehr viele
sensitive und sensible Persönlichkeiten zu finden sind, ist das
zwar nicht verwunderlich, aber verheerend. Gerade diejenigen, die
am aggressivsten Deutungshoheit für sich in Anspruch nehmen, die
den Konflikt nicht nur suchen, sondern ihn auch künstlich
herbeiführen, sind entweder hyposensibel, so dass sie die
feindliche Auseinandersetzung brauchen, um sich selbst spüren zu
können. Oder sie sind hypersensibel, indem sie uralte erlittene
Verletzungen oder gekränkte Eitelkeit nicht überwinden können.
Beides ist Gift für die Königliche Kunst.








Und es wäre wirklich sehr schade, wenn die Freimaurerei einst an
diesem Toxin zugrunde gehen würde. Das Problem ist nicht, dass
wir etwas sensibler sind. Uns bedeutet die königliche Kunst auch
sehr viel. Diese Kombination führt leider immer wieder dazu, dass
nur schwer nachvollziehbare Konflikte entstehen, die dann mit den
falschen Mitteln viel zu hart ausgetragen werden. Die
Freimaurerei bringt Aufklärung, Humanität,
Persönlichkeitsentwicklung und Freundschaft. Das begründet ihre
Legitimation, deshalb ist sie wünschenswert. Wo sie dies nicht
bringt, wo sie schädlich verklärt, inhuman anmutet,
Persönlichkeiten schadet und zersetzt oder Feindschaft erzeugt,
ist sie aus tiefstem Herzen abzulehnen. Und das gibt es, weil wir
selbst dazu beitragen, dass die Königliche Kunst so existiert,
wie sie existiert.





***





Nun, geneigter Begleiter, insbesondere der, der uns noch nicht
hat persönlich kennenlernen dürfen: Ich hoffe, dass Sie dies
nicht zu sehr abgeschreckt hat. Man muss aufgeklärt und ehrlich
über die Freimaurerei berichten. Und sie ist und bleibt eben
menschlich. Aber sehen Sie auch den Vorteil darin. Wenn sie ein
Mensch sind, dann können auch Sie ein Teil von ihr werden. Wenn
Sie dies denn wollen. Bis  dahin - begleiten Sie mich gerne
auf dem einen oder anderen Spaziergang. Ich würde mich freuen.





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