Interview Professor Gonther: \'Unglück auf Rezept\' bestätigt die psychiatrische Realität

Interview Professor Gonther: \'Unglück auf Rezept\' bestätigt die psychiatrische Realität

Beschreibung

vor 7 Jahren
www.depression-heute.de/blog/interview-professor-gonther-unglueck-auf-rezept-bestaetigt-die-psychiatrische-realitaet
Professor Uwe Gonther ist seit 2014 ärztlicher Direktor des Ameos
Klinikum Dr. Heines in Bremen. Im Interview mit Depression-Heute
redet der Psychiater offen über Abhängigkeit, falsche
Versprechungen der antidepressiven Medikamente und alternative
Behandlungsmöglichkeiten. Das AMEOS Klinikum Dr. Heines in
Bremen-Oberneuland gehört zu den ältesten psychiatrischen
Fachkrankenhäusen von Deutschland. Hier entwickelte der Arzt
Friedrich Engelken Senior im Jahr 1764 die damals
fortschrittlichste Therapie für depressive Patienten. Heute ist
Professor Uwe Gonther ärztlicher Direktor dieser Klinik. Im
Gespräch mit Depression-Heute (DH) erklärt er seinen
psychiatrischen Ansatz. DH: Herr Professor Gonther, Sie sind
Psychiater und ärztlicher Direktor einer Klinik mit über 200
stationären Betten sowie einer angeschlossenen Tagesklinik und
einer Institutsambulanz. Fühlen Sie sich von „Unglück auf Rezept“
angegriffen? Gonther: Nein, ganz im Gegenteil. Ich fühle mich
bestätigt. Das Buch thematisiert vieles, was ich an meiner Klinik
kenne und mit dem ich schon seit längerem zu tun habe. DH: Würden
sie dann bestätigen, dass es eine Abhängigkeit von Antidepressiva
gibt? Gonther: Solche Fälle erleben wir immer wieder bei uns.
Meistens geht es darum, dass die Menschen bereits seit einigen
Jahren ein Antidepressivum einnehmen. Das Medikament hat jedoch
keine Wirkung. Die Patienten reduzieren langsam ihre Dosis, doch es
gelingt ihnen nicht, die letzte Tablette weg zu lassen. Das
erfordert dann unsere Unterstützung. Glücklicherweise haben wir
bereits viel Erfahrung im Suchtbereich, insbesondere durch unsere
Arbeit im Opiat- oder Alkoholentzug. Darauf können wir
zurückgreifen. Allerdings ist die Abhängigkeit von Antidepressiva
anders, sie vollzieht sich eher auf einer subtil körperlichen
Ebene, die sehr tückisch sein kann. Ein „Craving“, also ein
Verlangen nach der Rauschwirkung der Stoffe gibt es hier fast nie.
DH: Werden zu vielen Menschen Antidepressiva verschrieben? Gonther:
Die Menge an Antidepressiva, die verschrieben wird, ist seit den
frühen 90er Jahren stark angestiegen. Als ich in der Psychiatrie
anfing, galt noch ein anderes Diagnosesystem. Damals wurde
unterschieden, ob eine Depression eine klar erkennbare Ursache
hatte, wie zum Beispiel ein Trauerfall oder eine Trennung. Diese
Patienten wurden nicht mit Antidepressiva behandelt. Sie sind
trotzdem gesundgeworden. Seit der Veränderung des Diagnosesystems
wird nur noch zwischen leichten, mittelschweren und schweren
Depressionen unterschieden. Dadurch erhalten nahezu alle
Patientinnen und Patienten mit Depressionen Antidepressiva. Es gibt
aber noch andere Gründe für die Zunahme. Die Diagnose wurde um
viele zusätzliche psychische Befindlichkeiten erweitert. Dadurch
stieg die Akzeptanz der Diagnose auch bei den Betroffenen.
Mittlerweile beschreiben sich viele Menschen selber als depressiv.
DH: In ihrer Klinik verschreiben Sie mittlerweile nicht mehr allen
depressiven Patienten Antidepressiva. Wie kam es dazu? Gonther:
Dafür sind vor allem Erfahrungswerte verantwortlich. In den 90er
Jahren kamen die „neuartigen“ Antidepressiva auf und die Hersteller
der Medikamente versprachen vollmundig, diese Medikamente hätten
nicht die Nachteile der alten Antidepressiva. Uns Psychiatern wurde
versprochen, die Mittel würden zielgenau gegen Depressionen wirken,
in dem sie an der biochemischen Ursache der Erkrankung ansetzen.
Das war eine faszinierende Idee. Wir hatten ja auch zuvor
Medikamente eingesetzt, aber bei diesen wussten wir immer, dass sie
nicht heilen können. Die Medikamente hatten keinen Selbstzweck, sie
waren keine alleinige Therapie, sondern sollten nur die Bedingungen
vorbereiten, mit denen eine Therapie möglich werden konnte. Einige
Jahre später bemerkte ich, dass die neuen Antidepressiva nicht
besser wirkten, als die alten Medikamente. Aber es litten viel mehr
Patientinnen und Patienten unter den von den Medikamenten
verursachten sexuellen Funktionsstörungen. Das waren sogar fast
alle. Ich habe dann eine Zeit lang vorrangig „ältere“
antidepressive Medikamente verschrieben. Über diese hatten wir in
unserer Ausbildung noch gelernt, wie lange man sie verschreibt und
wann man mit dem Absetzen beginnt. Aber das Ergebnis auf die
Depression wurde dadurch nicht besser. Erst in der jüngeren Zeit
habe ich durch kritische Weiterbildung erfahren, dass die Biochemie
der Depression unbekannt ist. Es gibt keinen körpereigenen Stoff,
der eine Depression anzeigt und auch keinen Stoff der sich bei
einer Besserung einer Depression messbar verändert. Wir Psychiater
haben Marketingversprechungen geglaubt, denen jedwede solide
wissenschaftliche Basis fehlt. DH: Vermutlich haben Sie bei den
Fortbildungen der Ärztekammern auch nicht erfahren, dass die neuen
Medikamente in den Zulassungsstudien bei stationär aufgenommenen
depressiven Patienten nicht besser gewirkt hatten, als die
Placebos. Gonther: Nein, die Fortbildungen wurden zwar von Ärzten
gehalten, aber diese Ärzte wurden von der Pharmaindustrie bezahlt.
Es gab keine unabhängigen Fortbildungen mit Hinweisen auf
Neben-wirkungen oder Wirkschwäche. DH: In Bremen gelten sie als
Kritiker einer medikamentenzentrierten Psychiatrie. Wie gehen die
niedergelassenen Ärzte damit um? Gonther: Viele haben Verständnis
und bereits eigene Erfahrungen gemacht, die in unsere Richtung
gehen. Man darf nicht vergessen, dass es früher als normal galt,
dass alle Patienten, die in eine Klinik aufgenommen wurden,
hinterher mehr Tabletten einnahmen als vorher. Diesen Weg konnte
ich nicht weitergehen, da zu uns täglich Personen mit den wildesten
Medikamentenkombinationen kamen. Das konnte man nicht noch weiter
erhöhen. Deshalb entschieden wir schrittweise Medikamente
abzusetzen. Jetzt ist es unser erklärtes Ziel, dass die Menschen,
nach ihrem Aufenthalt weniger Medikamente einnehmen, als vorher.
Wie gesagt, das ist für viele Mediziner ein sinnvolles Vorgehen.
Aber es gibt auch mehrere, die sich vor den Kopf gestoßen fühlen.
Sie haben den Eindruck, ihre langjährige Arbeitsweise wird in Frage
gestellt. Damit es nicht zu gegenseitigen Kränkungen kommt, müssen
wir das Gespräch in jedem Einzelfall und in gemeinsamen
unabhängigen Fortbildungen suchen. DH: Wenn Medikamente nicht der
wichtigste therapeutische Bestandteil der Behandlung sind, womit
behandeln Sie stattdessen? Gonther: Bei depressiven Patientinnen
und Patienten ist die menschliche Ansprache das wichtigste
therapeutische Hilfsmittel. In unserer Klinik können wir das durch
den Schichtdienst sogar mitten in der Nacht gewährleisten. Nicht
nur die ärztlichen, auch unsere pflegerischen Kolleginnen und
Kollegen sind dafür geschult. Einige der Pflegenden besitzen ein
sehr umfangreiches naturheilkundliches Wissen, andere arbeiten mit
Klangschalen, Aromen, Tees. Ein wichtiger Bestandteil der Therapie
basiert auf einer Erhöhung der körperlich aktiven Lebensweise,
durch Sport und Bewegungstherapie. Sinnvoll ist zudem eine
gesündere, bewusste Ernährung. Ganz wichtig ist es aber auch, die
Erkrankung zu akzeptieren. Dabei können sowohl beim Anerkennen als
auch beim Ändern der Lebensweise kreative Prozesse extrem hilfreich
sein. Wir bieten dafür zum Beispiel Kunsttherapie und auch
Ergotherapie an. Hinzu kommt die bewusste Begegnung mit der Natur
in unserem Garten und bei Ausflügen. Es geht darum, den Betroffenen
zu helfen, die eigene Freiheit wieder zu entdecken. Freiheitsgrade
werden durch Depressionen eingeschränkt und sollten durch die
Therapie zurückgewonnen und vermehrt werden. Außerhalb der Klinik
ermutigen wir die Patientinnen und Patienten, sich sozialen Gruppen
anzuschließen und dort Unterstützung zu holen. Mittlerweile gibt es
viele offene Gruppen, in denen auch kreativ gearbeitet wird. Ich
würde sagen, grundsätzlich kann man auch schwere Depressionen ohne
Medikamente gut behandeln. DH: Vielen Dank für das Gespräch.

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