Fußgängermodelle

Fußgängermodelle

Modellansatz 090
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Beschreibung

vor 8 Jahren

Dr. Tobias Kretz arbeitet in der Firma PTV Group in Karlsruhe an
der Modellierung und Simulation von Fußgängerströmen. Er
studierte Physik an der Universität Karlsruhe und behandelte in
seiner Diplomarbeit Teilchen-Zerfallsprozesse. Anschließend
führte ihn die Suche nach interessanten Anwendungen
physikalischer Konzepte zur Arbeitsgruppe Physik von Transport
und Verkehr an der Universität Duisburg-Essen. Dort
promovierte er im Themenfeld der Fußgängersimulation bei Prof.
Schreckenberg.


Damit war er genau der Experte, den die ptv suchte, als sie sich
entschied, die Verkehrssimulations-Software im Haus um den Aspekt
der Fußgängersimulation zu erweitern. Eine erste für Karlsruhe
interessante Anwendung der neuen Software VISWALK war die
Simulation der Großveranstaltung Das Fest hier in Karlsruhe.


Die Simulation von Fußgängerströmen ist eine noch junge
Disziplin. Sie entwickelte sich zunächst für Evakuierungs- und
Notfall-Szenarien. Heute dient die Fußgängersimulationssoftware
beispielsweise der Planung in großen Bahnhöfen. Denn hängt die
Frage, ob man einen Anschlußzug kann, nicht auch von der
Problematik ab, dass man dabei von anderen Fahrgästen behindert
wird? Außerdem ist die Untersuchung der von Effizienz von
Laufwegen sehr hilfreich in der Planung von Bauvorhaben.


In der Fußgängersimulation werden verschiedene Methoden aus der
Mathematik und Physik benutzt. In der Arbeitsgruppe von Herrn
Schreckenberg waren es vor allem Zellularautomaten. Im nun
vorhandenen Modul VISWALK wurde bei der ptv vor allem auf das
Social force Modell gesetzt, das auf einem Newtonschen Ansatz
(also dem Zusammenhang von Kraft und Beschleunigung) beruht und
auf eine Beschreibung durch Differentialgleichungen für die
einzelnen Fußgänger führt. Dieses System muss numerisch gelöst
werden. Die schrittweise Lösung entspricht dabei der zeitlichen
Entwicklung der Bewegung.


Die Grundidee beim Social Force Modell ist, dass man sich
vorstellt, dass die am Fußgänger angreifende Kräfte seine
Beschleunigung (inklusive der Richtung) verändern und damit seine
Bewegung bestimmen. Das einfachste Modell ist der Wunsch das Ziel
zu erreichen (driving force), denn es genügt dafür eine zum
gewünschten Ziel ziehende starke Kraft. Dabei muss man aber
anderen Fußgängern und Hindernissen ausweichen. Das Ausweichen
kann man aber leider nicht in genau ein Modell (also genau ein
erwartetes Verhalten) übersetzen; es gibt dazu einfach zu viele
Einflussfaktoren. Physikalisch werden sie daher als abstoßende
Kräfte im Nahfeld von anderen Fußgängern und Hindernissen
modelliert. Wichtige Fragen, die im Algorithmus zu
berücksichtigen sind, wären beispielsweise, wie nah geht ein
typischer Fußgänger typischerweise an anderen Fußgängern vorbei
geht, und welche Umwege typischerweise am attraktivsten
erscheinen.


Aus eigener Erfahrung kennt man den inneren Kampf, wie man mit
Gruppen, die sozusagen als ein weiches Hindernis im Weg stehen,
umgeht. Hindurchdrängeln vermeidet man oft. Das muss auch der
Algorithmus so tun, wenn er menschliches Verhalten nachbilden
soll. So kann man hier die Dichte der Gruppe in eine "Härte" des
Hindernisses übersetzen. Je nachdem wie dicht gepackt der Raum
ist, werden solche Entscheidungen aber auch unterschiedlich
ausfallen.


Berechnet wird natürlich stets die Bewegung des Schwerpunkts des
Fußgängers. Für die visuelle Umsetzung im Programm wird das
entsprechend graphisch aufbereitet, was natürlich auch einen
gewissen Rechenaufwand verursacht. Das Modell selbst ist
zeitkontinuierlich und so wird die Genauigkeit durch die für das
numerische Verfahren gewählte Zeitschrittweite bestimmt. Etwa
20.000 Personen können zur Zeit in Echtzeit simuliert werden.


Leider ist es im Programm bisher nahezu unmöglich zu
berücksichtigen, wie sich Menschen in zusammen gehörenden Zweier-
oder Dreier-Gruppen bewegen. Zum Glück ist das beispielsweise in
der Simulation von Berufspendlern auf einem Bahnhof ein
vernachlässigbares Phänomen. Ein weiterer Aspekt ist, dass die
Ergebnisse der intern komplexen Simulation sich schließlich für
den Verkehrsplaner in wenig komplexen Zahlenwerten spiegeln (wie
in Dichten). Dabei muss auch eine Balance gefunden werden
zwischen Komplexität des Modells und der Bedienbarkeit durch
einen Verkehrsplaner im Arbeitsalltag. Zu einfache Modelle - wie
solche, die nur Dichten von Personen berücksichtigen (sogenannte
Makromodelle) - können eventuell nicht mehr wiedergeben, dass es
in Korridoren gegenläufige Bewegungen gibt, was jedoch ein
zentraler Aspekt der tatsächlichen Fußgängerbewegung ist.


Daten zur Kalibrierung dieser Modelle sind nicht so einfach zu
erheben. Eine Möglichkeit ist die Auswertung von Videos (z.B. von
Überwachungskameras). Dabei weiß man natürlich nichts über den
Hintergrund der beobachteten Personen (Alter, Größe,
Dringlichkeit des Ortswechsels). In Laborexperimenten sind diese
Informationen verfügbar, aber es bleibt immer eine künstliche
Umgebung, die die Realitäts-Nähe der Ergebnisse potentiell
gefährdet. Ein noch ganz neuer dritter Weg ist in Zusammenarbeit
mit der Arbeitsgruppe von Prof. Hanebeck am KIT die Beobachtung
einer jeweils einzelnen echten Person in einer virtueller
Umgebung am Computer.


Wir unterhielten uns ausführlich über die Begleitung des Umbaus
eines Straßenabschnitts in Straßburg. In dieser Stadt wurde ein
grundlegender Plan piéton beschlossen, durch den sich in den
Jahren 2011-2020 die Situation für alle Verkehrsteilnehmer in der
Innenstadt verändern soll. Die ptv hat konkret die Umgestaltung
der Brücke Pont Kuss durch Simulationen begleitet. Da die Brücke
auf dem direkten Weg vom Hauptbahnhof in die historische
Innenstadt liegt, ist das Fußgängeraufkommen dort besonders hoch
und wurde zur Untermauerung der Notwendigkeit eines Umbaus
sorgfältig gezählt. Obwohl aus den Daten klar hervorging, dass
die Verteilung des öffentlichen Raums hier dringend geändert
werden sollte (mehr Platz für Fußgänger, weniger Spuren für PKW)
konnte darüber hinaus die Simulation zeigen, dass durch die
Einengung der Fahrspuren kein zu großer Nachteil für den
Autoverkehr entsteht.


In der städtischen Verkehrsplanung können Schwerpunkte (wie so
ein Fußgängerplan in Straßburg) häufig durch Personen in der
Verwaltung stark beeinflusst werden. Die faire Verteilung von
öffentlichem Raum wird uns aber in der Zukunft noch sehr stark
beschäftigen. Hier ist auch die Frage der Behandlung von
Radfahrern im Stadtverkehr ein Modellierungs-Problem mit vielen
offenen Fragen.


Die Verwendung von Simulationen in kritischen bzw.
Gefahren-Situationen ist auch nicht trivial. So hat es sich als
unrealistisch erwiesen, im Zeitraffer vorausberechnete
Situationen als Hilfestellung für Entscheidungen zu benutzen. Man
braucht in solchen Situationen Ergebnisse, die in wenigen
Augenblicken gute Ratschläge geben, wie Fußgängerströme geleitet
werden sollten. Das geht zum Glück häufig über Makromodelle, die
nur die Dichten beachten. Dies sind einfach genug analysierbare
und dabei aussagekräftige Größen in einer Krisensituation.


Neue Aufgaben für die Verbesserung von Fußgänger-Simulationen
stellen sich jedes Jahr. Ein wichtiger Aspekt ist im Moment, dass
die Software-Umsetzung sehr viel stärker parallelisiert werden
muss, um leistungsstärker werden zu können.
Literatur und weiterführende Informationen

D. Helbing, I. Farkas, T. Vicsek: Simulating dynamical
features of escape panic, Nature 407 (2000) 487-490.

C. Burstedde e.a.: Simulation of pedestrian dynamics using a
two-dimensional cellular automaton, Physica A: Statistical
Mechanics and its Applications 295 3–4 (2001) 507–525.

P.G. Gipps: Simulation of pedestrian traffic in buildings,
Schriftenreihe Institut für Verkehrswesen Universität Karlsruhe
(1987).

T. Kretz, F. Reutenauer, F. Schubert: Multi-Modal
Simulation-Based Planning For Pedestrians, 92nd Annual Meeting of
the Transportation Research Board (2013).

J. Bamberger e.a.: Crowd Research at School: Crossing Flows,
Traffic and Granular Flow (2013) 137-144, Springer-Verlag.

T. Kretz: A Link to Practice – a Reply to Urs Walter's
Opening Presentation at PED 2012, Transportation Research
Procedia, Special Issue PED 2014, 177–182, Elsevier Verlag.

Podcasts und Videos

PTV Youtube-Kanal

H. Benner: Fußgänger, Gespräch mit G. Thäter im Modellansatz
Podcast, Folge 43, Fakultät für Mathematik, Karlsruher Institut
für Technologie (KIT), 2015. http://modellansatz.de/fussgaenger

U. Leyn: Verkehrswesen, Gespräch mit G. Thäter im
Modellansatz Podcast, Folge 88, Fakultät für Mathematik,
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2016.
http://modellansatz.de/verkehrswesen

M. Petersen: Unfallvorhersage, Gespräch mit G. Thäter im
Modellansatz Podcast, Folge 29, Fakultät für Mathematik,
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2014.
http://modellansatz.de/unfallvorhersage

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